erstaunten Blicke, die mich trafen, nahm ich den Mantel um und stand schon auf der Treppe, als meine Eltern mich einholten. Angekleidet, wie ich war, warf ich mich zu Hause aufs Bett. Mama fühlte mir den Puls und schickte nach dem Arzt. „Die übliche Frühlingskrankheit junger Damen,“ sagte er, „schicken Sie ihr Fräulein Tochter aufs Land.“ Mit einem Gefühl der Befreiung ergriff ich den guten Rat und stellte mich kränker, als ich war, nur um ihm folgen zu dürfen.
Es war Ende April damals. Die kleine Fürstin Limburg fiel mir ein, die mich wiederholt nach Hohenlimburg eingeladen hatte. Sie war ein reizendes Frauchen, das jedoch seiner nicht ganz ebenbürtigen Herkunft wegen von der Gesellschaft Münsters schlecht behandelt worden war. Zuerst aus bloßem Widerspruchsgeist, dann aus Sympathie hatte ich mich ihrer eifrig angenommen und mir ihre Freundschaft erworben. „Kommen Sie sofort, freue mich riesig“ war ihre telegraphische Antwort auf meine Anfrage, ob mein Besuch ihr recht wäre.
Der Frühling des Jahres 89 schien allen Dichterphantasien gerecht werden zu wollen. In reinem Blau spannte sich der Himmel Tag um Tag über die Erde, und es sproßte und blühte überall; keinen kahlen Winkel duldete der Lenz in seiner verschwenderischen Laune. Am ersten Mai fuhr ich über die Haar hinunter ins Lennetal; leuchtend wie flüssiges Silber, schlängelte sich der Fluß zwischen den Bergen, die ihn links und rechts, von grüngoldigem Glanz übergossen, in weichen Linien begrenzten. So weit das Auge blickte: Wald und Berg,
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 389. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/391&oldid=- (Version vom 31.7.2018)