kein Hehl daraus machte. Im stillen gab ich ihm recht. Er unterwirft mich wirklich einer förmlichen Prüfung, dachte ich bitter. Häufig nahm er einen dozierenden Ton an, der mich wild machen konnte. Und doch wuchs seine Macht über mich. Es imponierte mir, daß er nie den girrenden Seladon spielte, sich niemals meinen Wünschen fügte, ja, sich manchen leisen Tadel gestattete, dessen Berechtigung ich anerkennen mußte. Schon vor Jahr und Tag hatte ich meiner Kusine geschrieben: „Ich bedarf der Bewunderung, sagst du, – gewiß! Und doch sehne ich mich nach einem Menschen, den nicht ich unterwerfe, sondern der mich unterwirft, der mir nicht demütig die Hände küßt, sondern mich sanft und mitleidig an sein Herz zieht und spricht: Nun ruh dich aus, du armes, müdes Kind!“
Nur die Halbgeschlechtlichen, die der Natur Entfremdeten konstruieren künstlich eine Weibesliebe, die den Gleichen begehrt. Den Höherstehenden will sie; denn blindes Vertrauen und kindliche Schutzbedürftigkeit ist ihres Wesens Inhalt. Mir half die Phantasie, meiner Sehnsucht Erfüllung vorzutäuschen, und wenn ich auch oft entsetzt gewahr wurde, daß der Instinkt der Natur mich nicht zu Syburg zwang, sondern es zwischen uns lag wie eiskaltes Gletscherwasser, so schlugen meine Wünsche immer wieder die Brücken hinüber. Nur des Nachts rächte sich die unterjochte Natur an mir. Stundenlang lag ich wach und kämpfte mit den warnenden Stimmen meines Innern; erst wenn der Tag dämmerte, fiel ich in unruhigen Schlaf. Von der Servatiikirche hörte ich die Stunden schlagen; die gleichmäßigen Schritte zählte ich, mit denen der Posten vor dem Hause unaufhörlich
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/386&oldid=- (Version vom 31.7.2018)