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Kenntnisse, seine vielseitigen Interessen erhoben ihn über den Durchschnitt. Er war konservativ bis in die Fingerspitzen, und unsere Ansichten platzten ständig aufeinander. Aber hinter den seinen stand eine so gefestigte Überzeugung, so daß mir meine eigene Unklarheit peinlich zum Bewußtsein kam. Im Grunde war ich nur sicher in der Negation; diese Schwäche meines Standpunkts schien Herr von Syburg rasch zu entdecken, sie verlieh ihm ein Übergewicht, das mir in unserem ferneren Verkehr stets peinlich fühlbar blieb.

Er besuchte uns am nächsten Tage und fehlte dann in keiner Gesellschaft. Er machte mir auf seine Art den Hof, tanzte fast jeden Kotillon mit mir und war stets mein Tischherr.

„Nun hast du glücklich wieder eine neue ‚Briefmarke‘,“ meinte mein Vater; aber während er sonst an dieselbe Bemerkung ärgerliche Vorwürfe knüpfte, lächelte er diesmal dazu. Er neckte mich, weil ich fahnenflüchtig zum Zivil überginge, und erzählte wohl auch gelegentlich von dem großen Besitz der Syburgs in Schleswig, oder von dem Ministerportefeuille, das der Landrat schon heimlich in der Tasche trüge. Seine Stimmung machte mich weich, – der Gedanke, daß es vielleicht in meiner Hand liegen sollte, ihn glücklich zu machen, lähmte meine Widerstandskraft. Dabei wurde ich Syburg gegenüber immer scheuer und büßte immer mehr von meiner Lustigkeit ein, weil ich mich ständig von ihm beobachtet wußte.

„Sie kommen mir vor wie ein Abiturient im Examen,“ sagte Hessenstein eines Tages zu mir, der der einzige war, dem die Entwicklung der Dinge mißfiel, und der

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 383. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/385&oldid=- (Version vom 31.7.2018)