Liebe Mathilde!
Das Dreibretzeljahr, von dem ich mir so viel versprochen hatte, geht zu Ende. Es ist nicht süß, ja nicht einmal schmackhaft gewesen, und sein einziges greifbares Resultat ist, daß ich meine hochfliegenden Wünsche und Hoffnungen sauber verpackt zu anderem Urväterhausrat in die alte Truhe legte, wo ich sie vielleicht an Sonn- und Feiertagen des Lebens hie und da herausnehmen und mit wehmütiger Resignation betrachten werde, wie die Großmütter die Liebesbriefe ihrer sechzehn Jahre. Du brauchst mir zum neuen Jahr kein Glück zu wünschen; ich weiß von vorn herein, was es bringt: das landläufige Mädchenschicksal einer Vernunftheirat. Ich kenne den Glücklichen noch nicht, der sich an den Resten meines Ich entflammen wird – aber ich werde ihn finden, und trainiere mich jetzt schon zur Kühle und Ruhe, damit mir nicht am unrechten Ort das Herz durchgeht.
Heut nacht hab ich beim müden Schimmer meiner Rosa-Ampel lange wach gesessen und geträumt, – gegrübelt wohl eher, denn träumen tut man kaum mehr,
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 378. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/380&oldid=- (Version vom 31.7.2018)