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Karneval! In keinem protestantischen Lande ist dergleichen möglich, auch wenn es auf denselben Breitengraden liegt, wie Münster, wie Köln, wie Düsseldorf, wie München. Vor lauter Verständigkeit und Nüchternheit haben wir die Freude verlernt, die ein Bestandteil heidnischer Religiosität ist.“

Jetzt war die Reihe an meinem Begleiter, überlegen zu lächeln.

„Ob Sie, infolge irgend welcher verwirrender Lehren sogenannter wissenschaftlicher Aufklärung, Heidentum nennen, was christ-katholisch ist, das dürfte zunächst von geringem Belang sein, sofern Sie nur an die Lehren der Kirche glauben. Wir verlangen von den Novizen nicht die Gedanken- und Gefühlstiefe des erprobten Bekenners.“

„Aber ich glaube ja an Ihre Heiligen nicht, wenn ich ihre Existenz auch verstehe!“ Der Priester schüttelte den grauen Kopf. „Wir werden einander nie näher kommen, Hochwürden. Wo Sie Religion sehen, sehe ich Kunst, und Ihr Gott und Ihre Heiligen sind für mich nicht überirdische Wesen, die ich anbeten muß, sondern Gebilde, die unsere Phantasie erschuf, wie die Hand des Malers die heilige Jungfrau drüben. Daß Ihre Kirche diese Schöpferkraft nicht unterband, sondern schützte, nährte, anfeuerte, ist ein Verdienst, das sie mir ehrwürdig macht. Sie werden aber nun selbst einsehen, daß sich aus solchem Material keine Proselyten machen lassen.“

Man schien mich trotz alledem nicht aufzugeben. Ich wurde in der Gesellschaft Westfalens mit mehr Interesse und Aufmerksamkeit behandelt als sonst ein junges Mädchen und war viel zu eitel, um die Vorteile dieser Ausnahmestellung

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 366. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/368&oldid=- (Version vom 31.7.2018)