denn auch nicht die Stellung meines Vaters, sondern sein Name und der Stammbaum meiner Mutter, die uns rasch alle Türen öffneten. Geistige Ansprüche an unsere Gesellschaft zu stellen, hatte ich aufgegeben; die Alix Kleve, die mit heißen Wangen und brennender Lebenslust zum Klang süßer Walzerweisen von einem Arm in den anderen flog, war nicht dieselbe, die daheim mit klopfendem Herzen und unstillbarem Geistesdurst über den Büchern saß.
Die Atmosphäre der Vornehmheit und des Reichtums, die Eleganz der Tänzer, die Schönheit der Menschen und der Räume befriedigte meine Sinne; es gab Tage und Stunden, wo die prickelnde, fiebernde Lust des Karnevals mich ganz und gar gefangen nahm, wo eine Tanzmelodie mich wie ein elektrischer Schlag bis in die Fußspitzen durchzuckte und alle übrigen Lebenstöne erschlug. Wir tanzten täglich; in den Fastnachtstagen fielen sogar die Schranken zwischen den Gesellschaftsklassen und unter Papierschlangengeschossen und Konfettiregen wagten wir uns unter die maskierte Menge der Straße. Alle Höfe und Häuser standen offen; überall konnten die Masken sich selbst zu Gaste laden, und doch artete die sprudelnde Lustigkeit nie in rohe Späße aus.
Am Fastnachtsdienstag gab es ein Frühstück im Kürassierkasino, wo die Sektpfropfen knatterten wie Salven, und darauf einen ausgelassenen Tanz im Sande der Reitbahn, wo die Herren um die Wette über Hürden und Gräben sprangen. Abends war der letzte Ball des Damenklubs; noch einmal wurde getanzt wie rasend, alte Graubärte machten den Jüngsten den Rang dabei streitig, und die Fülle der Blumen, die uns gespendet wurden, ließ sich kaum
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 362. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/364&oldid=- (Version vom 31.7.2018)