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den Flugsand doch noch fesseln und ihre toten Brüder an ihm rächen werden.“

Dieser Brief trug mir eine lange Moralpredigt von der Empfängerin, meiner Kusine, ein; sie gehörte auch zu den ‚vernünftigen‘ Leuten, und schon längst hatte unsere Korrespondenz den Charakter des Gedankenaustausches vollkommen eingebüßt. Daß ich jemanden hatte, dem gegenüber ich mich rückhaltlos aussprechen konnte, war aber für mich Grund genug, sie aufrecht zu erhalten. Auf meiner Reise nach Süddeutschland, die ich, der Einladung von Tante Klotilde folgend, schon im Mai des Jahres 1887 antrat, hielt ich mich in Magdeburg eine Woche bei Mathilde auf. Ich wäre am liebsten schon nach dem ersten Tage abgereist: eine Häuslichkeit, wo die Armut in jedem Winkel zu hocken schien und einen stillen siegreichen Kampf mit der Vornehmheit kämpfte, die verschüchtert durch die Räume schlich; ein von des Lebens Not gezeichneter, in der muffigen Luft der Bureaus ständig mit seiner Sehnsucht nach der freien Natur ringender Vater, der mit verbissenem Haß alles verfolgte, was reich, was glücklich war; die Mutter, die trotz ihrer drei Kinder alle bösen Zeichen vergrämter Altjungfernschaft an sich trug; die Söhne, geistig verkümmert, durch die Schultyrannei um jeden Rest von Jugendfrohsinn gebracht; die Tochter, meine Freundin, blaß, müde, mit Mädchenfreundschaften, Gesangvereinen, und Sonntagsschularbeit mühselig ihren Lebenshunger stillend, – daß es dergleichen gab, daß sich solch ein Dasein ertragen ließ!

In München traf ich meinen Vater. Wir reisten zusammen nach Augsburg, einem schweren Augenblick entgegen.

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/332&oldid=- (Version vom 31.7.2018)