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war indessen vergebens den heimtückischen Angreifern auf der Spur gewesen; er konnte sich nicht fassen vor Wut, und ich hörte tagelang nichts anderes als sein maßloses Schimpfen auf diese „Satansbrut von Sozialdemokraten.“ Niemand als sie waren die Attentäter gewesen, sie, die sich im Reichstag durch ihre Haltung gegenüber der Militärvorlage als Vaterlandsverräter dokumentiert hatten, – sie, die nichts anders verdienten, als samt und sonders nach den Kolonien deportiert zu werden.

Die Kriegswolken ballten sich gewitterdrohend zusammen. Daß sie nur in der Phantasie Bismarks lebten, als willkommenes Mittel, seine Forderungen durchzusetzen, – das glaubten wir hier, dicht an der russischen Grenze, nicht. Eine Tag um Tag steigende Erregung bemächtigte sich unser: die jungen Offiziere strahlten in der Erwartung, daß ihr Leben endlich zum Ereignis werden könnte; mein Vater, der die Schrecken des Krieges kannte, war bei allem Ernst, mit dem er die Situation betrachtete, doch in gehobener Stimmung. „Soldat sein und nur Krieg spielen und Rekruten drillen, ist dasselbe wie Künstler sein und nichts als Malstunden geben,“ pflegte er zu sagen. In unserer nächsten Nähe an der Grenze standen die Kosaken, und Woche um Woche wurden die russischen Garnisonen verstärkt. Mein Vater reiste nach Berlin. Wenige Tage nach seiner Rückkehr wurden die Weisungen von dort unheildrohender. In aller Stille wurden die Offiziere benachrichtigt, beizeiten für rasche Entfernung ihrer Familien zu sorgen, kam es zur Kriegserklärung, so konnten die russischen Reiter in wenigen Stunden mitten in Bromberg sein.

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/329&oldid=- (Version vom 31.7.2018)