morgens wieder, den überschlanken, großen Mann, mit den wässerigen Augen, der roten Nase und den ergrauenden Haaren, hörte ich seine rauhe Stimme, sein Lachen, das wie tonlos war, so war er mir ein Fremder, – eine Seele voll Wohlklang, die sich auf der Suche nach Menschwerdung in den Körper eines Dekadenten verirrt hatte.
Angstvoll empfand ich, daß er mich liebte, und sah zugleich an der Selbstverständlichkeit, mit der man mich mit ihm allein ließ, was alle erwarteten. Ich fürchtete die Aussprache – aber nicht weniger die Trennung. Ich kürzte den Augenblick des Gutenachtsagens mehr und mehr ab; ich wußte, daß ich in seiner Macht war, wenn der Zauber seiner Musik mich gefangen genommen hatte.
Sein Urlaub ging zu Ende; ich fesselte mein Schwesterchen so sehr als möglich an mich, um ein Alleinsein zu verhindern. Aber eines schönen Morgens lief sie mir davon, als wir grade im Begriffe waren, in den Kahn zu steigen. Stumm ruderte er mich auf dem schmalen Kanal, der sich, von Bäumen und Büschen dicht umstanden, durch den Park zog. Schon tanzten gelbe Blätter auf seinen dunkelgrünen Spiegel nieder, während die Glut des Spätsommertages wie eingeschlossen unter dem Laubdach lag. Ich starrte ins Wasser und spielte mit der Hand darin. Ein „Fräulein von Kleve“, mit rauherer Stimme als sonst hervorgestoßen, ließ mich zusammenfahren. „Wollen Sie meine Frau werden?“ – – Ich antwortete nicht. „Ich bin nicht jung, nicht schön,“ fuhr er nach einer Pause leise fort. „Ich habe Ihnen nichts zu bieten, als –“ er zögerte, und eine flüchtige Röte stieg ihm
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 249. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/251&oldid=- (Version vom 31.7.2018)