richten. Männer lesen keine Romane mehr, weil sie zu weibisch geschrieben sind, und Frauen werden immer weibischer, weil sie sich mit dem faden Zeug ihren geistigen Magen verderben. Am schlimmsten ists, wenn auch noch Frauen die Romane schreiben: mit der gestohlenen Gloriole der Poesie verklärte Klatschgeschichten. Ein neuer Grund für meine Antipathie gegen die Frauen. Ich frage mich nur: sind wir so klein, so leer, so unweiblich – oder hat man uns so gemacht?“
Mit um so heißeren Wangen und klopfenderem Herzen vertiefte ich mich in Goethe. Auch das, was ich schon längst kannte, war voll neuer Offenbarungen für mich. In ein kleines Heft, das ich ständig bei mir trug – sorgfältig in ein grünseidenes Tüchlein gewickelt –, schrieb ich ein, was mir am besten gefiel und schlug es in stillen Stunden auf, wie der Priester sein Brevier, um zu lesen und wieder zu lesen, bis ich Satz für Satz auswendig konnte. Zwei standen doppelt unterstrichen an der Spitze: „Er gehörte zu den vielen, denen das Leben keine Resultate gibt und die sich daher im Einzelnen vor wie nach abmühen;“ – – und: „Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden.“ Der eine sollte sein, wie ein drohend aufgerichtetes Zeichen, eine stete Warnung, das Leben nicht zu verzetteln, sondern ihm nach großen Zielen die feste Richtung zu geben, – der andere ein Tröster in Zeiten der Mutlosigkeit, wenn ich zu mir selbst das Vertrauen verlor oder andere mich dessen zu berauben versuchten.
Mit bewußter Auflehnung gegen die asketischen Erziehungsmaximen meiner Mutter schrieb ich mir vor
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/245&oldid=- (Version vom 31.7.2018)