nächsten Augenblick mit tiefen durstigen Zügen den reinen Quell einzusaugen, der ihm die dunstig-schwere Schwüle ringsum erst zum Bewußtsein bringt. Wie solch einem war mir zumute. Kämpfte ich nicht ständig, um mich dem Leben und dem Herkommen unterzuordnen? Versuchte ich nicht, mir einzureden, jeder Sieg über meine innersten Triebe sei ein Zeichen wachsender Tugend? Und hatte doch stets ein schlechtes Gewissen dabei!
Lustige Stimmen schlugen an mein Ohr:
„Auf Wiedersehen beim Konzert nachmittag …“
„Gehst du zur Reunion heut abend? …“
„Wir gehen ins Theater …“
Halb abwesend starrte ich von einem zum andern.
„Alix hat Tagesträume,“ hörte ich Großmama sagen; verwirrt schlug ich das Buch zu. Abends vor dem Schlafengehen trug ich den Satz aus dem Gedächtnis in mein Notizbuch ein – zwischen lauter Adressen, Gedichten und Rezepten. Mit Großmama wechselte ich kein Wort darüber; ich fürchtete mich; wie ein Dieb kam ich mir vor, der ängstlich den gestohlenen Brillanten hütet, und instinktiv fühlte ich, daß es keinen größeren Gegensatz geben könne, als den zwischen diesen Worten und der Lehre von der Nachfolge Christi, zu der Großmama sich bekannte. Ein Schleier war zwischen uns niedergefallen, der nicht trennt, aber die Klarheit der Züge verwischt.
Ende Mai machten wir unserem Arzt die Abschiedsvisite.
„Na also!“ sagte er zufrieden, „da wären die roten Backen wieder! Aber nun gilts brav sein und gehorchen und das Herzchen festhalten! …“
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 224. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/226&oldid=- (Version vom 31.7.2018)