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stillen verurteilte ich Nietzsche, – dessen Namen ich übrigens zum ersten Male hörte, – der dem großen Freunde hatte untreu werden können, und begriff nicht Gersdorffs Anhänglichkeit an ihn.

Eines schönen Maienmorgens saßen wir in großer Gesellschaft eben eingetroffner Verwandter auf der „alten Wiese“ vor dem „Elefanten“; Großmama war mit ihnen in die Besprechung alter und neuer Familiengeschichten vertieft, die mich immer sehr langweilten; Gersdorff las in einem der vielen Bücher, ohne die er das Haus nicht zu verlassen pflegte. Ich machte mich im stillen über die bademäßig herausgeputzte, mit rosa Brottüten bewaffnete, rührig, wie zum ernstesten Geschäft, ihrem Ziel, dem lockenden Frühstück, zustrebende Menge lustig, die an uns vorüberflutete. Mir war sehr wohl, sehr behaglich zumute, wie nur einem jungen Gesundgewordnen sein kann, der die gekräftigten Glieder in der warmen Frühlingssonne dehnt. Da fiel mein Blick auf die „Fröhliche Wissenschaft“, Nietzsches jüngstes Werk, das neben Gersdorffs Tasse lag. Er hatte Großmama zuweilen einzelne Abschnitte daraus vorgelesen, von denen mir die Empfindung des unheimlich Fremden zurückgeblieben war. Mechanisch fing ich an, darin zu blättern, bis ein Satz mir ins Auge sprang: „Das Leben sagt: Folge mir nicht nach; – sondern dir! sondern dir! Leidenschaft ist besser als Stoizismus und Heuchelei, Ehrlichsein, selbst im Bösen, besser, als sich an die Sittlichkeit des Herkommens verlieren …“

Wenn ein eisiger Luftstrom durch plötzlich weit aufgerißne Fenster den im warmen Zimmer Sitzenden trifft, so schauert er zuerst frierend und angstvoll zusammen, um im

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/225&oldid=- (Version vom 31.7.2018)