Wir gingen weiter; ich kämpfte mit den Tränen. Meine Mutter fiel mir ein: sie erfüllte bis zur Erschöpfung ihre Pflicht, aber ihre Lippen preßten sich immer enger aufeinander, als müßten sie krampfhaft die Qual zurückdrängen, die nach Ausdruck verlangte. Und an Onkel Walter dachte ich und an jenen unvergessenen Auftritt mit seiner Mutter in Berlin; und an all die leisen Zurücksetzungen und Kränkungen, die sie, die immer Gute, von ihren Kindern zu ertragen hatte. Ich wußte: auch sie hatte gelebt und geliebt und nach schwindelnden Höhen gestrebt, und dies war das Ende, das von ihr gepriesene, von all dem Sehnen, all den heißen Hoffnungen, die einzige Frucht, die aus dem blühenden Leben so vieler Talente, so vieler Kräfte hervorging? Mich überliefs, wenn ich mein Leben an diesem maß. Ich fühlte schmerzhaft die große Kluft zwischen ihrem abgeklärten Alter und meiner gährenden Jugend. Liebe und Verehrung kann bestehen zwischen beiden, auch wohlwollendes Verständnis, und starke Wirkungen können ausgehen von einem zum anderen, aber jene magnetischen Ströme fehlen, durch die das Feinste und Tiefste lebendig vom Menschen zum Menschen flutet. Auf dem Wege zu schwindelnden Bergeshöhen kann der Greis nicht mehr Schritt halten mit dem Jüngling, und grausam ist es, wenn er ihn an sich fesselt, aber noch viel grausamer gegen sich selbst, wenn Jugend, ihre Triebe hemmend, sich freiwillig dem Alter unterwirft. Trennung – auch wenn sie Wunden reißt – ist eine Bedingung des Lebens.
Sich beherrschen, sich unterwerfen war die Quintessenz meiner – und aller – Erziehung gewesen. Darum
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/218&oldid=- (Version vom 31.7.2018)