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Achtes Kapitel


„Nun wird sie schlafen – –“ hörte ich in halbem Traum den Arzt zu meiner Mutter sagen, während sich leise die Türe hinter ihnen schloß. Seit vier Tagen hatte ich mich in Schmerzen gewunden, die selbst der Morphiumspritze stand hielten. Heute war ich chloroformiert worden. Durstig hatte ich unter der Gazemaske den süßen Duft wachsender Betäubung eingesogen. Jetzt lag ich schwer, wie in Ketten gebunden, auf dem Bett, – schmerzlos, schlaflos. Ein mattes, rosig flackerndes Licht ging von dem Nachtlämpchen neben mir aus. Die gelben Blätter auf der Tapete zuckten hin und her – zuerst langsam, dann immer schneller, schneller –, mir wurde schwindlig dabei. Ich schloß die Augen. Gott, war ich müde! – Plötzlich sprang die Türe auf, und es schwebte herein, groß, weiß und kalt; Augen sahen mich an, ohne Farbe, wie Mondlichter, – und andere tauchten wie aus Nebelschleiern auf, blutunterlaufene, – in schmerzverzerrten Gesichtern, – hungrige, die gierig nach Beute suchten, – lüsterne, in denen kleine, rote Flammen tanzten. Dabei rauschte es wie von vielen Gewändern, und tappte und klapperte, wie von zahllosen Tritten … Die Wände rückten auseinander vor der schiebenden drängenden Masse

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/213&oldid=- (Version vom 31.7.2018)