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süße weiße Körperchen, so gingen mir die Augen über vor zärtlicher Liebe, und heimlich schwor ich mir zu: dich will ich behüten vor all der Qual, die ich erlitt. Aber die polnische Amme, ein leidenschaftliches Geschöpf, das mit der angstvollen eifersüchtigen Liebe wilder Tiere an dem Säugling hing, als wäre er ihr eignes Kind, tat, was sie konnte, um mich fernzuhalten; auch meine Mutter schien mich in der Kinderstube ungern zu sehen, und so ging ich bald wieder meine einsamen äußeren und inneren Wege.

Eines Tages, als ich verspätet wie immer an den Frühstückstisch trat, – ich pflegte erst gegen Morgen tief und ruhig zu schlafen –, belehrte mich ein Blick auf die Eltern, daß sie eine heftige Auseinandersetzung gehabt hatten. Das war mir zwar nichts Neues, denn Mama sah neuerdings häufig verweint aus, und Papa wurde beim kleinsten Anlaß heftiger denn je, – an der kurzen Begrüßung merkte ich aber, daß ich die Ursache ihres Streits gewesen sein mußte.

„Da lies!“ sagte mein Vater und reichte mir ein längeres Schreiben mit der Unterschrift unseres Garnisonpfarrers. Es lautete:


Posen, den 6. Januar 1879 


 Hochverehrter Herr Oberst!

Sie werden es mir nicht verübeln können, wenn ich als Seelsorger unsrer Gemeinde, dem das ewige Heil aller ihrer Glieder am Herzen liegt, im Interesse Ihrer Tochter diese Zeilen an Sie richte.

Schon seit längerer Zeit habe ich beobachtet, und aus vielen mir zugegangenen Berichten wohlwollender Männer

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/125&oldid=- (Version vom 31.7.2018)