Mama erkundigte sich am nächsten Morgen teilnehmend um ihr geschwollenes Gesicht; sie sprach von „Zahnschmerzen“, ich schwieg. Nicht ein Wort von dem, was geschehen war, hätte ich zu sagen vermocht. Ich ging umher, und meine Scham war wie ein glühender Mantel, der meinen ganzen Körper dicht umschloß. Ich wurde die Bilder nicht los, während der Ekel mir die Kehle zukrampfte. Das – das war Liebe – Liebe, von der ich geträumt hatte, an der alle meine Gedanken sich entzündeten, die alle Dichter als das Schönste und Höchste priesen! – Ich wollte nicht mehr daran denken, – ich wollte nicht. Aber dann stiegen neue Fragen auf, und Zweifel, und an leise Hoffnungen klammerten sich die alten Ideale. An wen hätte ich mich wenden sollen, als an Anna, vor der die Scham am leichtesten überwunden war? „Nur die ganz schlechten, ganz gemeinen Männer, nur die Verbrecher sind – so?“ Welch eine Erlösung wäre ein Ja gewesen! Aber Anna unterstrich und erläuterte das „Nein“ doppelt und dreifach. Und nur in ganz hellen, frohen Stunden, – sie waren selten genug –, triumphierte mein Idealismus, und die alte Schöpferkraft meiner Phantasie schuf sich reine Lichtgestalten.
Wenn aber nachts mein Herz und mein Blut mir keine Ruhe ließen, so verfolgten mich unablässig die gräßlichsten Träume. Verzweifelt kämpfte ich dagegen an, – wie um meiner zu spotten, kamen sie mit doppelter Gewalt wieder. Am Tage war ich totmüde, dunkle Ringe umschatteten meine Augen, und die Überzeugung meiner abgrundtiefen Schlechtigkeit machte mich scheuer und verschlossener noch als vorher. Wenn meine
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/123&oldid=- (Version vom 31.7.2018)