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Nur der Unterricht meines Lehrers wirkte noch beruhigend auf die Stürme meines Innern und lenkte mein Interesse in andere Bahnen. Die Literaturgeschichte besonders fesselte mich mehr und mehr. Sie bestand nicht nur aus den Namen der Dichter, den Titeln ihrer Werke und fix und fertigen Urteilen über sie, mit denen ausgerüstet unsere Jugend Bildung zu heucheln pflegt, sie vermittelte mir vielmehr, soweit es meiner geistigen Entwicklung entsprach, die Kenntnis der Werke selbst. In kleinen gelben Heftchen brachte sie mir mein Lehrer, der nicht die Mittel hatte, kostbarere Ausgaben anzuschaffen. Die nordische und die ältere deutsche Literatur, die griechischen und römischen Klassiker lernte ich auf diese Weise kennen; mit der Lektüre wuchs mein Verlangen nach immer neuen Büchern, und statt des Weihrauchs und der Blumen für meinen Tempel kaufte ich mir ein Reklamheft nach dem andern. Nachdem ich erst den Katalog in Händen hatte, ließ es mir keine Ruhe mehr: ich mußte lesen, lesen – alles lesen. Was mir der Lehrer empfahl, genügte meinen von Neugierde und Wissensdurst aufgepeitschten Wünschen längst nicht mehr, noch weniger, was mir die Eltern gaben und erlaubten. In acht Tagen pflegte ich meine Weihnachts- und Geburtstagsbücher auszulesen, und wenn ich mich auch immer aufs neue in Grubes „Charakterbilder“ – meine Fundgrube, wie Papa sagte – und in Gustav Freytags „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ vertiefte, so füllte das alles die freie Zeit doch nicht aus.

Andere Kinder meines Alters spielten; meine Puppen und mein Kochherd wurden nur dann der Vergessenheit

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/099&oldid=- (Version vom 31.7.2018)