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Zeug“ fort zu räumen; schließlich, als ich eines Morgens von der Klavierstunde kam, trat sie mir mit hochrotem Gesicht entgegen. „Wirst du dir denn nie das Lügen abgewöhnen?!“ rief sie und zog mich in mein Zimmer. Mein Tempel war verschwunden, in wirrem Durcheinander lagen Stoffe und Blumen, Lichter und Räucherwerk auf dem Tisch, erloschen stand das Lämpchen neben Baldur-Apoll. „Weißt du, wie man das nennt, wenn man sich fremdes Eigentum aneignet?!“ Vor diesen Worten wich die Erstarrung des ersten Entsetzens von mir. Aufschreiend warf ich mich vor meinem Bett in die Kniee; meine Glieder flogen, und mein Herz klopfte, als wollte es mir die Brust zersprengen. Meine Mutter hielt diesen Ausbruch der Verzweiflung offenbar für Reue. „Na, beruhige dich, Alixchen,“ sagte sie, mir die Hand auf den Kopf legend, eine Berührung, die mich zwang, ihn nur noch tiefer in die Kissen zu vergraben, „ich will die ganze Geschichte noch einmal als bloße Kinderei betrachten. Belügst du mich aber noch ein einziges Mal, so muß ich andre Saiten aufziehen.“

Ich baute von nun an keine Tempel mehr. Mein äußeres Leben war das einer korrekten Schülerin und wohlerzogenen Tochter. In der schwülen Treibhausluft meines Innern aber wucherten die Wunderblumen meiner Träume, und berauschend umwehte mich ihr Duft, wenn ich allein war und zu mir selber kam. Oft hielt ich mich krampfhaft wach, bis alle schliefen, um dann bei der trübe flackernden Kerze noch lange am Schreibtisch zu sitzen, wo ich mit glühendem Kopf und frostbebendem Körper Verse zu Papier brachte, die nach Freiheit schrieen und nach Liebe.

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/098&oldid=- (Version vom 31.7.2018)