von Leonidas und Tiberius Gracchus bis zu den Amerikanern, den Griechen, den Polen der Neuzeit –, zeigten mir ihre Narben und Wunden, und meine Begeisterung entflammte sich an ihren Taten und Leiden. Die Dichter sprachen zu mir, und die Lehrer und die Propheten der Menschheit brachten dem kleinen Mädchen die unvergänglichsten ihrer Schätze. Wenn sie auch ihren Wert noch nicht zu würdigen verstand, so erkannte sie doch mit inbrünstigem Schauern ihren Reichtum, und die Welt, bisher für sie nur erfüllt mit den Nebelgestalten ihrer eignen Schöpfung, sah sie nun aus tausend lebendigen Augen an.
Mündlich und schriftlich hatte ich Gelesenes und Gehörtes nicht nur automatisch wiederzugeben, sondern meine eignen Eindrücke und Gedanken daran zu knüpfen. Stets verteidigte ich leidenschaftlich meine Helden, und um ihre Widersacher zu malen, war mir das tiefste Schwarz nicht schwarz genug. Suchte der Lehrer meine Engel in Menschen zu verwandeln, so bäumte sich meine Empfindung feindselig gegen ihn auf; und geschah es, daß mein Verstand ihm recht geben mußte, so trauerte ich verzweifelt vor dem gestürzten Heros, als wäre mir ein Freund gestorben.
Ein hoher hölzerner Fußschemel war meine Rednertribüne. Ich konnte nicht zusammenhängend sprechen, wenn ich am Tische saß oder stand; ich bedurfte eines merkbaren räumlichen Abstands zwischen mir und dem Zuhörer und war daher instinktiv auf diesen Ausweg verfallen. Nur in Mamas Gegenwart half auch der Fußschemel nichts, seitdem sie einmal zugehört und über mein Pathos Tränen gelacht hatte. Mein Lehrer verstand
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/091&oldid=- (Version vom 31.7.2018)