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Aber noch mehr, als ich sah, hörte ich, und lernte rasch ein halbes Wort, ein vielsagendes Lächeln verstehen: da mußte der eine den Abschied nehmen, weil er sein „Verhältnis“ geheiratet hatte, und der andre ruinierte sich eines „Frauenzimmers“ wegen; da wurde einer im Duell erschossen, weil seine Frau auf dem Zimmer eines Schauspielers gefunden worden war, und eine andre wurde in der Gesellschaft „unmöglich“, weil sie ihren Mann heimlich verlassen hatte. Bei alledem schwebte mir immer Onkel Walters Geliebte vor, die Mutter seines Kindes, der meine Phantasie die Gestalt der duldenden Madonna gegeben hatte, und ich nahm im Innern unentwegt Partei für ihre Leidensgefährtinnen.

Im Sommer gingen wir wieder nach Oberbayern. Mein schwaches Herz, das sich in Ohnmachtsanfällen allzu häufig bemerkbar machte, bedurfte der Stärkung durch die Bergluft. Aber meine Freude über das Reiseziel sollte eine erhebliche Einbuße erfahren: statt im Rosenhaus zu wohnen, bei Tante Klotilde, blieben wir in Garmisch im Hotel. Als wir das erstemal zu ihr kamen, war ich steif und still. Selbst als der Sepp mit einem Strauß von Orchideen, die ich ihrer märchenhaften Formen wegen immer besonders liebte, vor mir stand, ließ ich mich nicht bewegen, mit ihm zu spielen. „Das Fräulein ist wohl ganz preußisch geworden,“ sagte Tante Klotilde spöttisch. Ich sah sie böse an. Sie hatte keine Spur von Verständnis für mich; sie wußte nicht, daß ich die Kosthäppchen des Lebens nie leiden konnte. Wer nicht das ganze köstliche Gericht haben kann, für den ist eine Probe davon nur eine grausame Mahnung an das, was er entbehrt.

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/077&oldid=- (Version vom 31.7.2018)