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hatte, – ich pflegte sie sonst im Traume von mir zu werfen –, und, die Hände gefaltet, neben mir stand, mein Abendgebet erwartend, richtete ich mich noch einmal auf: „Großmama, liebe Großmama,“ kam es mit Anstrengung über meine Lippen, „sag mir doch, ist eine Geliebte dasselbe wie eine Frau?“ Und sie gab mir eine Antwort, wie ich sie noch auf keine Frage von ihr erhalten hatte: „Kind, das verstehst du nicht.“

Mein Abendgebet vergaßen wir danach alle beide.

Trotz des gemeinsamen Geheimnisses, um das meine Gedanken sich in der Stille unaufhörlich drehten, trat seitdem eine leise und noch lange nachwirkende Entfremdung zwischen uns ein. Ich aber achtete von nun an genau auf meine Umgebung, auf alles, was geschah und was gesprochen wurde. Ich merkte, daß Papa mir seltner etwas mitbrachte als früher, wo er fast immer eine Schachtel Bonbons oder ein Spielzeug für mich in der Tasche gehabt hatte. Und wenn er es jetzt noch tat, so war Mamas Empörung über die „Verschwendung“ so groß, daß mir von vornherein jede Freude verging. Ich sah, wie im stillen überall gespart und geknausert wurde, ohne daß sich nach außen viel veränderte: unsre alte französische Köchin machte einer deutschen Platz, die keine Kuchen und Pasteten backen konnte, an Stelle der Jungfer trat ein Hausmädchen, unter deren Händen Mamas blonder Kopf nicht mehr zu einem Kunstwerk wurde wie früher. Nur der Wilhelm, der Diener, blieb, und seine stets gleichmäßig unbeweglichen Züge verrieten niemandem, wie anders es im Hause der Herrschaft geworden war; er schenkte den billigen Mosel bei Tisch mit derselben Würde ein, wie den teuren Rheinwein früher.

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/076&oldid=- (Version vom 31.7.2018)