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„Und du – du bist mein Sohn!“ hörte ich Großmama mit halberstickter Stimme sagen. Hätte ich ihr nur zu Füßen fallen und ihre Hände küssen können!

Nach langer, peinvoller Stille fing sie wieder zu sprechen an: mit ruhiger Geschäftsmäßigkeit, wie zu einem völlig Fremden, setzte sie Onkel Walter auseinander, welche Schritte zur Regelung seiner Angelegenheiten zu tun seien, und zu welchem Zeitpunkt sie ihre Übersiedlung nach Pirgallen vornehmen würde. „Für das unschuldige Würmchen und die arme Mutter sorge ich,“ schloß sie, „und nun gute Nacht!“

Ohne ein Wort zu erwidern, verließ Onkel Walter das Zimmer.

Wieviel Schleier, unter denen bisher das Leben sich mir verborgen hatte, waren in dieser kurzen Stunde zerrissen! Wild klopfte mir das Herz. Da trat Großmama über die Schwelle. „Alixchen!“ rief sie entsetzt. Ich sprang auf, und den heißen Kopf in die kühlen Sammetfalten ihres Kleides pressend, erzählte ich ihr, daß ich alles, alles gehört hätte.

„Ich, ich will dir helfen, Großmama,“ rief ich, ohne eine Antwort von ihr abzuwarten, während die abenteuerlichsten Pläne sich in meinem Hirne kreuzten. „Ich komme mit nach Pirgallen, und dann pflege ich das kleine Kind, und du brauchst keine Kinderfrau.“ Bittend sah ich auf zu ihr; mit wehmütigem Lächeln streichelte sie mir die glühenden Wangen, und durch ihre Liebkosung ermuntert, fuhr ich noch eifriger fort: „Weißt du, wenn ich das tue, sind doch auch die Eltern mich los und brauchen kein Geld für mich auszugeben“ – – Großmama war noch immer still – – „vielleicht kann

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/074&oldid=- (Version vom 31.7.2018)