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noch nie jemand geschenkt. Endlich ging der Joggi die Halde hinunter. Voller Freuden schauten die Mutter, Otto und Miezchen ihm nach: er hielt seinen Zuckerhahn bald in der einen, bald in der anderen Hand, lachte immerzu und hatte seinen Schrecken gänzlich vergessen. –

Seit drei Tagen hatte die Frau Oberst den Schreiner Andres nicht besucht. Es hatte sich so vieles ereignet in diesen Tagen, daß sie gar nicht begriff, wie die Zeit dahingegangen war; doch konnte sie ja ruhig sein, sie wußte, daß der Andres gut verpflegt und besorgt und dazu auf dem besten Wege der Genesung war.

Ihr Mann hatte gleich am Morgen nach seiner Rückkehr aus der Stadt den Andres besucht, um ihm die Entdeckung und die Festnahme seines Bruders selbst mitzuteilen. Andres hatte ganz ruhig zugehört und dann gesagt: „Er hat es so haben wollen; es wäre doch besser gewesen, er hätte mich um ein wenig Geld gebeten, ich hätte ihm ja schon gegeben; aber er hat immer lieber geprügelt, als gute Worte gegeben.“

Jetzt trat die Frau Oberst am sonnigen Wintermorgen aus ihrer Tür und stieg fröhlichen Herzens den Berg hinunter, denn sie beschäftigte sich in ihrem Innern mit einem Gedanken, der ihr wohlgefiel. Als sie die Haustür aufmachte beim Schreiner Andres, kam Wiseli eben aus der Stube heraus. Seine Augen waren ganz aufgeschwollen und hochrot vom Weinen. Es gab der Frau Oberst nur flüchtig die Hand und schoß scheu in die Küche hinein, um sich zu verbergen. So hatte die Frau Oberst das Wiseli noch gar nie gesehen. Was konnte da begegnet sein? Sie trat in die Stube ein. Da saß am sonnigen Fenster der Andres und sah aus, als sei ein noch nie erlebtes Unheil über ihn hereingebrochen.

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Johanna Spyri: Heimatlos. Gotha 1878, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Heimatlos_(Spyri)_226.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)