Seite:De Heimatlos (Spyri) 208.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Sie nicht denken. Ich sollte hier drinnen im Bett liegen, und draußen in der Küche sollte das schwache Kindlein für mich arbeiten! Ach um's Himmels willen, wie dürfte ich noch an seine Mutter unter dem Boden denken, wie würde sie mich ansehen, wenn sie so etwas wüßte. Nein, nein, Frau Oberst, meiner Lebtag nicht, lieber nicht essen, lieber nicht mehr aufkommen, als so etwas tun.“

Die Oberstin hatte ihn ganz ruhig fertig reden lassen; jetzt, da er sich auf sein Kissen zurücklegte, sagte sie beruhigend:

„Es ist nicht so schlimm, was ich ausgedacht habe, Andres; denkt jetzt nur ruhig ein wenig nach. Ihr wißt ja, wo das Wiseli versorgt ist. Meint Ihr, es habe dort nichts zu tun, oder nur besonders leichte Arbeit? Recht tüchtig muß es dran und bekommt so wenig freundliche Worte dazu. Würdet Ihr ihm etwa auch keine geben? Wißt Ihr, was Wiselis Mutter tun würde, wenn sie jetzt neben uns stände? Mit Tränen würde sie Euch danken, würdet Ihr das Kind jetzt in Euer Haus nehmen, wo es gute Tage hätte, das weiß ich schon, und Ihr solltet sehen, wie gern es die kleinen Dienstleistungen für Euch täte.“

Jetzt mußte dem Andres auf einmal alles anders vorkommen. Er wischte sich die Augen; dann sagte er kleinlaut:

„Ach, ach! Wie könnte ich aber zu dem Kinde kommen? Sie geben es gewiß nicht weg, und dann müßte man ja doch auch wissen, ob es wollte.“

„Es ist jetzt schon gut, kümmert Euch nicht weiter, Andres“, sagte die Frau Oberst fröhlich und stand von ihrem Sessel auf; „ich will nun selbst sehen, wie's geht, denn mir liegt die Sache nach allen Seiten hin am Herzen.“

Empfohlene Zitierweise:
Johanna Spyri: Heimatlos. Gotha 1878, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Heimatlos_(Spyri)_208.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)