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Wer hat dich’s gelehrt? Wie kannst du die Töne finden?“

„Ich kann noch etwas, wenn ich’s spielen darf“, sagte Rico und schaute mit Verlangen auf das Instrument in seinem Arm.

„Spiel’s!“ bedeutete der Lehrer. Jetzt spielte Rico mit aller Sicherheit und freudestrahlenden Augen:

„Ihr Schäflein hinunter
Von sonniger Höh’,
Der Tag ging schon unter,
Für heute ade!“

Der Lehrer hatte sich auf einen Stuhl niedergelassen und die Brille aufgesetzt. Er schaute mit ernster Prüfung jetzt auf Ricos Finger, dann auf seine funkelnden Augen, dann wieder auf die Finger. Rico hatte fertig gespielt.

„Komm hier zu mir her, Rico!“

Der Lehrer rückte seinen Stuhl ins Licht, und Rico mußte sich gerade vor ihm aufstellen. „So, nun muß ich ein Wort mit dir reden. Dein Vater ist ein Welscher, Rico, und siehst du, dort unten gehen allerhand Dinge, von denen wir hier in den Bergen nichts wissen. Nun sieh mir in die Augen und sag mir aufrichtig und der Wahrheit gemäß: Wie bist du dazu gekommen, diese Melodie ohne Fehler auf meiner Geige zu spielen?“

Rico schaute den Lehrer mit ganz ehrlichen Augen an und sagte: „Ich habe sie Euch abgelernt in der Singschule, wo wir sie so viel singen.“

Diese Worte gaben der Sache eine ganz andere Wendung. Der Lehrer stand auf und ging einige Male hin und her. So war er selbst der Urheber dieser wunderbaren Erscheinung; da waren also keine Schwarzkünste dabei

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Johanna Spyri: Heimatlos. Gotha 1878, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Heimatlos_(Spyri)_017.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)