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nunmehr regellos durcheinander, wie durch Beobachtung der Brown-schen Wimmelbewegung feiner Stäubchen in der entstehenden Schmelze deutlich erkannt werden kann.

     Bis zur Entdeckung der flüssigen Kristalle nahm man deshalb an, die Raumgitterstruktur sei das charakteristische Merkmal eines Kristalls ebenso wie die regellose Molekülanordnung für den flüssigen Zustand. Fest und kristallisiert schienen gleichbedeutend und kristallinische Natur der lebenden eiweißartig fließenden Substanzen unmöglich, somit auch Verwandtschaft ihrer gestaltenden und treibenden Kräfte mit den Atomkräften der Kristalle ausgeschlossen. Dazu kamen andere grundsätzliche Verschiedenheiten. Wohl baut sich auch ein Lebewesen ganz gesetzmäßig aus den Atomen der Nährstoffe auf; z. B. wird aus einem Weidensteckling ein Weidenbaum, er heilt gewissermaßen aus, wie ein Fragment eines wachsenden Kristalls; aus einem Vogelei entsteht immer ein Vogel; aber Kristalle bestehen aus gleichartigen Molekülen, Lebewesen sind zusammengesetzt aus sehr verschiedenartigen Substanzen und meist Aggregate von Zellen, die selbst wieder kompliziert aus kolloidalen Stoffen (sehr feinkörnigen Gemischen verschiedener Substanzen) aufgebaut sind. Wohl gibt es Bakterien, die so klein sind, daß sie die Poren der feinsten gewöhnlichen Filter durchdringen, bestehend aus Stoffen, deren Moleküle nachweislich aus Tausenden von Atomen zusammengesetzt sind, so daß ein solches Bakterium vielleicht ebenfalls nur ein Aggregat von einigen Tausenden Molekülen ist, also keine sehr komplizierte Struktur besitzen kann; indes entstehen auch solche Bakterien niemals von selbst wie Kristalle; trotz aller Bemühungen konnte kein Fall von Urzeugung aufgefunden werden, Kristalle wachsen aus Lösungen; die lebenden Stoffe sind unlöslich. Letztere reagieren auf Reize, Kristalle sind unempfindlich und zeigen keine psychischen Eigenschaften. Schon GOETHE verspottete deshalb die Annahme einer Verwandtschaft von Kristallen und Lebewesen durch Einfügung der Kristallisation des Homunkulus im zweiten Teil seines „Faust“. Dennoch tauchte die Hypothese immer wieder auf. Der bekannte Biologe E. Haeckel betrachtete sie schon vor 60 Jahren als durchaus zutreffend[1] und bald darauf glaubte der Geologe H. Vogelsang[2] beobachtet zu haben, jeder Kristall habe


  1. E. Haeckel, Generelle Morphologie 1866; Kristallseelen 1918; Rettig, Die physikalische Formel der Seele, Karlsruhe, G. Braun, 1919.
  2. H. Vogelsang, Philosophie der Geologie 1867, 139; Die Kristalliten 1875.