Wieder mußte Iversen beschwichtigen. Die Tage all’ dieser Leute waren gezählt, so etwas würde ja im Zukunftsstaat nicht mehr möglich sein; man konnte Geduld haben und abwarten. Inzwischen versprach er, nicht länger als bis zehn Uhr zu spielen. „Ich bin ja kein Künstler; oft vergehen Monate, ohne daß ich die Geige hernehme, es war der reinste Zufall, aber – ich bin nun gleich beim ersten Spintbrot zugelehrt worden, wie wir in Mecklenburg sagen.“ Er konnte sehr geduldig sein, wenn er eben in der Laune war, und dann wäre es ja geradezu ein Verbrechen gewesen, diese arme alte Dame, die ihm gar von einer bekannten Familie sprach, wo er wohnen und gewiß unbehelligt wohnen könne, unritterlich zu behandeln. Eine wohlthuende Atmosphäre verbreitete sie um sich; er kam sich vor wie zu Hause und war doch nie vorher in ihrem Zimmer gewesen; er wunderte sich, wie ein so schüchternes weltfremdes Wesen sein Dasein zu behaupten vermochte in dieser rauhen gährenden Zeit, und zugleich war ihm dies alles so bekannt wie ein altes Buch, das er als Kind gelesen. Sogar das Bild überm Clavier glaubte er schon einmal gesehen zu haben. Dies elfenhafte Geschöpf mit dem bläulichen Bande in den Locken, an eine Harfe gelehnt, eine Hand auf den goldschimmernden Saiten, ruhig hinausträumend.
„Das ist hübsch,“ sagte er und blieb vor der großen Leinwand stehen. „Ist es ein Porträt?“
Ilse Frapan: Flügel auf!. Paetel, Berlin 1895, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Fl%C3%BCgel_auf_Frapan_Ilse.djvu/23&oldid=- (Version vom 31.7.2018)