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Ich hörte ein leises Singen; so zärtlich klang es und war doch kein Liebeslied, so viel Jubel lag darin und war doch keine Siegeshymne. Die Stimme kannte ich; ihrem Klange wollte ich nachstürzen, aber etwas Fremdes, Neues in ihr zügelte meine Leidenschaft. Ich schlich durch das Dickicht.

Und da sah ich Dich: auf der weißen Bank unter dem dunkelroten Dach der Kastanien, das Knäblein im Arm, dessen winziges Mündchen durstig an deinem hüllenlosen, rosigen Busen lag. Du sahst mich nicht; gebannt hing Dein Blick an dem Kinde; Du fühltest nicht meine Nähe; all Dein Empfinden gehörte ihm. Mein Begehren verstummte, und doch liebte ich Dich noch nie so stark, so tief wie jetzt. Ich ging, wie ich kam, – ungesehen, – diesen Frieden zu stören, wäre mir wie ein Sakrilegium vorgekommen.

Nun aber, Du süße Mutter meines Sohnes, darf ich Dich wiedersehen, darf es wagen, Dich all den Aufregungen ausgesetzt zu wissen, die unserer endlichen dauernden Vereinigung vorausgehen werden. Du schreibst kein Wort darüber, ich vermisse sogar den helleren Ton der Freude über Deinen Aufenthalt in Paris; Du klagst, daß der Marquis Dich immer um sich haben will, daß er den Kleinen von Tag zu Tag mehr mit dem Stolz des echten Vaters betrachtet. Ich wollte, er zeigte sich als ein noch größerer Tyrann, damit Du die Freiheit um so rücksichtsloser erkämpfen möchtest!

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Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 382. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/388&oldid=- (Version vom 31.7.2018)