Garderobe doch nicht ganz up to date. Ich fürchte, ich werde die Werke Tientais, dieses einzigsten Pekinger Schneiders, der für die Europäer alles fabrizierte, von Fracks bis zu Maskenkostümen, Ballkleidern und Layetten, nur noch als Reliquien vergangener Zeiten bewahren. Als ich heute in die Salons eines großen Schneidergeschäfts trat und unwahrscheinlich schlanke Damen mit kunstvoll frisiertem rotgoldenen Haar die letzten Modeschöpfungen anlegten und darin vor mir zwischen langen Spiegelreihen auf und ab stolzierten, mußte ich lächeln im Gedanken an das letzte Schneideratelier, in dem ich vor wenigen Wochen noch gewesen – das Atelier Tientais. – Ein paar Schritte von der englischen Gesandtschaft lag es, dicht an der Brücke, die über den Kanal führt. Aus dem Sumpf und den Löchern der Straße konnte man sich auf die Karikatur eines Trottoirs retten, das auch nur aus ein paar übereinander geworfenen Steinen bestand. Schaute man durch die offene Tür in die Schneiderhütte, so sah man ein niedriges Zimmerchen, dessen Wände mit Modebildern besteckt waren; mehrere Chinesen saßen darin, eifrig nähend an Herren- und Damenkleidern; in einem Winkel lag ein Haufen englischer Stoffe, die zu »Nummer-Eins«-Kostümen verarbeitet, von der Pekinger europäischen jeunesse
Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten. Verlag von Gebrüder Paetel, Berlin 1903, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Briefe_die_ihn_nicht_erreichten_Heyking_Elisabeth_von.djvu/43&oldid=- (Version vom 31.7.2018)