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näher herbeikam, da sah Gunhilde, wie scheußlich sie war. Ihre Stirn und ihre Wangen waren zusammengerunzelt, wie Handschuhe, die naß geworden und auf dem Ofen getrocknet sind; ihre schielenden Augen glühten wie feurige Kohlen und leckten Tropfen, wie der Schornstein leckt, wann regnigtes Wetter ist; in ihrem häßlichen Munde war auch kein Zahn mehr; und wo weiland ein rundes Kinn gewesen, war jetzt ein spitzer magerer Knochen mit einigen langen weissen Barthaaren besäet, die wie einzelne Stoppeln standen gleich dem Barte, womit die Katzen geziert sind. Die schöne Gunhilde schauderte freilich zusammen bei dem ersten Anblick, aber doch war ihr das alte Weib anziehend. Denn das haben fast alle Hexen so an sich, daß auch die sie verabscheuen nicht leicht von ihnen kommen können. Die Alte grüßte das schöne Kind und bot ihm einen schönen guten Morgen, lächelte dazu gar leidig und gebehrdete sich freundlich und that so süß wie ein Thimiansbeutelchen; dann begann sie nach manchen Räusperungen und Flüsterungen also:

Ich sehe es dir an, liebes Kind, daß du dich nicht wenig wunderst über diese Erscheinung, die jetzt vor dir steht. Ich aber verwundere mich nicht über deine Verwunderung; denn was ist natürlicher, da du nie einen Menschen gesehen

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Ernst Moritz Arndt: Mährchen und Jugenderinnerungen. Erster Theil. Berlin 1818, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Arndt_M%C3%A4hrchen_1_273.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)