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     Bist in der Welt ein wildfremdes Vögelein
Und unbekannt allen Leuten,
Dich zwingt wohl Hunger Frost und Schnee,
Der fällt auf den Weg den breiten.

     Mich zwingt nicht Hunger, mich zwingt nicht Schnee,
Der fällt auf den Weg den breiten,
Mich zwingt weit mehr geheime Pein,
Die macht mir Angst und Leiden.

     Wohl zwischen Bergen und tiefem Thal
Da rinnen die brausenden Wasser,
Und welcher einen Treuliebsten hat,
Kann ihn aus dem Herzen nicht lassen.

     Ich hatt’ einen Liebsten fromm und kühn,
Einen Ritter von herrischen Gaben,
Meine Stiefmutter warf es geschwinde um,
Sie wollte die Liebe nicht haben.

     Sie schuf mich zu einer Nachtigall,
Hieß mich in der Welt umfliegen,
Meine Bruder zu einem Wolf so grimm,
Mußte sich zu den Wölfen fügen.

     Gleich lief er in den Wald, sie sprach:
In Wolfsgestalt soll er gehen,
Bis daß er getrunken mein Herzensblut.
Sieben Jahre drauf ist es geschehen.

Empfohlene Zitierweise:
Ernst Moritz Arndt: Mährchen und Jugenderinnerungen. Erster Theil. Berlin 1818, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Arndt_M%C3%A4hrchen_1_058.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)