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die Mark verloren. Verwandt damit ist die Ueberschätzung der kleinen Angelegenheiten überhaupt; gegenwärtige Bagatellen lassen Vergangenheit und Zukunft vergessen, raubt jede Fassung; Grosses und Kleines wird mit derselben Aufregung behandelt und das wahrhaft Wichtige wird um einer Nichtigkeit willen vernachlässigt. Schlimme Erfahrungen pflegen an der Sache nichts zu ändern und Auseinandersetzungen erzielen zwar theoretische Zustimmung, bessern aber nicht. „Ich bin einmal so“. Die Schwäche der Urtheilskraft tritt besonders deshalb hervor, weil mit den Jahren der Instinct abnimmt. Sie wird oft verdeckt durch die Anlehnung an fremdes Urtheil; fehlt aber einmal die Stütze, so erschrickt man über die unglaublichen Missgriffe bei ganz einfachen Angelegenheiten. Die Suggestibilität nimmt mehr und mehr zu, eintönige Eigensuggestionen herrschen vor und bewirken einen Eigensinn, gegen den Gründe ganz machtlos sind. Weil der Geist steif wird, hat das Bestehende immer mehr Recht, es entwickelt sich „Misoneismus“, und die Reactionen werden maschinenmässig. Diese Dinge sind ja dem Alter überhaupt eigen, jedoch beim Weibe beobachtet man sie auffallend früh und sie erhalten eine eigentümliche Färbung durch die Verbindung mit der weiblichen Redekunst. Wer nicht das Glück gehabt hat, die Besprechungen älterer Damen mit anzuhören, kann sich kaum eine Vorstellung von der Länge und Leere der Gespräche machen. Das schlichteste Thema wird zu unzähligen Variationen verarbeitet und die scharfen Tenore wiegen vor. Das Bild vom Flusse der Rede hat mannigfache Abwandlungen erfahren: Dachtraufe, plätschernde Wellen u. s. w., am besten ist vielleicht die Vergleichung mit einer leergehenden Mühle. –

Die Kenntniss der verschiedenen Formen des physiologischen Schwachsinnes kann auch klinische Bedeutung erlangen, wenn es sich um die Abgrenzung vom pathologischen Schwachsinne handelt, und Der, der nur die vom Manne vernommene Norm kennt, ist in Gefahr, bei einem Weibe pathologische Zustände zu diagnosticiren, wo sie nicht vorhanden sind. Die Beurtheilung leichten Schwachsinnes gehört zu den schwierigsten Aufgaben, und unsere klinischen Methoden sind

Empfohlene Zitierweise:
Paul Julius Möbius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes. 5. veränderte Auflage. Marhold, Halle a. S. 1903, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_%C3%9Cber_den_physiologischen_Schwachsinn_des_Weibes_(M%C3%B6bius).djvu/36&oldid=- (Version vom 31.7.2018)