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kein wesentlicher Unterschied sein. Man wende nicht ein, Dummheit sei gesund, Schwachsinn krankhaft, denn diese Entgegenstellung ist im schlechten Sinne populär und beruht im Grunde auf der ungehörigen Einmischung von Werthurtheilen. Für die wissenschaftliche Betrachtung kann die landläufige Dummheit gerade so eine krankhafte Abweichung sein wie abnorme Kleinheit oder Schwachsichtigkeit u. s. w. Andererseits giebt es wirklich einen physiologischen Schwachsinn, da das Kind schwachsinnig ist im Vergleiche mit dem Erwachsenen, und da man doch das Altwerden nicht als Krankheit bezeichnen kann (trotz dem senectus ipsa morbus), mit dem Altwerden aber eine Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit früher oder später eintritt. Uebrigens braucht auch die Sprache das Wort dumm bei krankhaften Veränderungen: er ist durch das Trinken, oder durch eine hitzige Krankheit dumm geworden. Indessen, auch wenn wir die Dummheit zum Schwachsinne rechnen, die Schwierigkeit ist deshalb nicht beseitigt, weil die Grenze der Dummheit nach oben nicht feststeht. In gewisser Hinsicht ist Jeder dumm, der eine in der Musik, der andere in der Mathematik, dieser in den Sprachen, jener in Handel und Wandel, u. s. f. Man müsste demnach partiellen und allgemeinen Schwachsinn unterscheiden. Mit gewissem Rechte wird man sagen, ja die besonderen Talente zählen nicht mit, es braucht Einer nur im Durchschnitte gute Fähigkeiten zu haben. Das ist es eben, was bedeutet der Durchschnitt, wie stellt man die Norm fest? Hier wie überall bei der Bestimmung feinerer pathologischer Formen, die mit den groben Angaben der gewöhnlichen Klinik nicht zu erledigen ist, stossen wir auf den Mangel eines geistigen Canon. Für die Körperformen haben wir den Canon und können leicht bestimmen, ob diese oder jene Zahl von Centimetern noch normal sei, für die geistigen Fähigkeiten aber fehlt die Regel, hier herrscht die Willkür. Man denke nur an die Verschiedenheiten der Gutachten in zweifelhaften Fällen. Es wäre thöricht, zu behaupten, die jetzt herrschende Unsicherheit sei nothwendig, denn man könne keine Grenzen ziehen, wo in Wirklichkeit keine sind. So schlimm ist die Sache nicht: wenn man sich

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Paul Julius Möbius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes. 5. veränderte Auflage. Marhold , Halle a. S. 1903, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_%C3%9Cber_den_physiologischen_Schwachsinn_des_Weibes_(M%C3%B6bius).djvu/16&oldid=- (Version vom 31.7.2018)