Paul Lafargue (übersetzt von Eduard Bernstein): Das Recht auf Faulheit | |
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nichts, nichts vermag die Berge von Produkten zu erschöpfen, welche höher und gewaltiger als die Pyramiden Egyptens anschwellen: die Produktivität der europäischen Arbeiter trotzt allem Konsum, aller Verschleuderung. Die Fabrikanten wissen in ihrer Angst nicht mehr, wo den Kopf lassen, sie können nicht Rohstoffe genug auftreiben, um die wahnsinnige Arbeitssucht ihrer Arbeiter zu befriedigen. Gewisse Wollenfabrikanten kaufen schmutzige, halbverfaulte Wollenlappen ein und verfertigen daraus ein Tuch, das so lange vorhält wie Wahlversprechungen oder königliche Eide – in anderen Industrien geht es ähnlich zu: man fälscht die Produkte, um ihren Absatz zu erleichtern und ihre Existenzdauer zu verkürzen. Ignoranten zeihen unsere frommen Fabrikanten darob des Betruges, während sie in Wahrheit nur der Gedanke beseelt, den Arbeitern, die sich nicht dazu entschließen können, mit gekreuzten Armen sich ihres Lebens zu freuen, Arbeit zu geben. Diese Fälschungen, die einzig und allein humanitären Rücksichten entspringen, jedoch den Fabrikanten, die sie praktiziren, famose Profite eintragen, sind zwar für die Qualität der Waaren von verderblichster Wirkung, sind zwar eine unerschöpfliche Quelle von Vergeudung menschlicher Arbeit, aber sie kennzeichnen doch die geniale Philantropie unserer Bourgeois und die schreckliche Verkehrtheit der Arbeiter, die, um ihre lasterhafte Arbeitssucht zu befriedigen, die Herren Industriellen veranlassen, die Stimme ihres Gewissens zu ersticken und sogar die Gesetze der kaufmännischen Ehrbarkeit zu verletzen.
Und doch, trotz aller Ueberproduktion, trotz Waarenfälschung überfluthen die Arbeiter in immer wachsender Menge den Markt und rufen flehentlich: Arbeit! Arbeit! Ihre übergroße Zahl sollte sie veranlassen, ihre Leidenschaft zu zügeln – statt dessen treibt sie sie bis zur Raserei. Wo sich nur Aussicht auf Arbeit bietet, darauf stürzen sie sich. Sie arbeiten 12, 14 Stunden, um sich nur so recht abschinden zu können; und Tags darauf liegen sie wieder auf dem Pflaster und wissen nicht, wie ihre Arbeitssucht befriedigen.
Jahr für Jahr treten in den verschiedenen Industrien mit der Regelmäßigkeit der Jahreszeiten Stockungen ein; auf die für den Organismus mörderische Ueberarbeit folgt für drei bis sechs Monate absolute Ruhe, und – keine Arbeit, keine Bissen!
Wenn denn nun die Arbeitssucht in den Arbeitern eingewurzelt ist, wenn sie denn alle anderen natürlichen Instinkte erstickt, und wenn anderseits die – von der Gesellschaft erforderte Arbeitsmenge nothwendigerweise durch den Konsum und die Menge des Rohmaterials begrenzt ist, warum in sechs Monaten die Arbeit des ganzen Jahres verschlingen? Warum sie nicht lieber gleichmäßig auf die 12 Monate vertheilen, und jeden Arbeiter zwingen, sich das Jahr über täglich mit fünf oder sechs Stunden zu begnügen, anstatt sich während sechs Monaten mit täglich 12 Stunden den Magen zu verderben? Wenn ihnen ihr täglicher Arbeitsantheil gesichert ist, werden die Arbeiter nicht mehr mit einander eifersüchteln, sich nicht mehr die Arbeit aus der Hand und das Brod vom Mund wegreißen, dann
daß es die Ursache ihres Aussterbens ist, sich englisch kleiden und auf englisch besaufen, lediglich deshalb, weil die schottischen Brenner und die Industriellen Manchesters Konsumenten brauchen.
Paul Lafargue (übersetzt von Eduard Bernstein): Das Recht auf Faulheit. Schweizerische Genossenschaftsbuchdruckerei, Hottingen-Zürich 1884, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_recht_auf_faulheit-lafargue-1884.pdf/22&oldid=- (Version vom 11.6.2017)