es gibt nur eine Geschichte wechselnder religiöser Anschauungen. Es gibt keine Geschichte Gottes mit der Menschheit, es gibt nur eine Geschichte von Gottesbildern, die der Mensch sich selbst macht, und es ist nur ein Anknüpfen an eine nun einmal vorhandene Überlieferung, daß biblische Stoffe noch in die gewandelte Weltanschauung mit übernommen werden.
Im Volkstestament der Deutschen Christen fehlt jede positive Verbindung Jesu mit dem Alten Testament. Christus ist hier nicht Erfüller, sondern Zerstörer, er ist der große Revolutionär, der zu seiner Zeit nur ein Nein zu sagen hat. Die großen Kampfgeschichten finden wir alle wieder.[1] Wir finden wieder, was Jesus gegen die Sabbatgesetzlichkeit zu sagen hat, wenn es auch verwundern mag, daß fast überall allgemein vom Feiertag[2] statt vom Sabbat[3] gesprochen wird. Wir finden wieder die Auseinandersetzung mit der pharisäischen Gesetzlichkeit und die großen Wehen gegen die Pharisäer selbst, finden wieder das Gespräch über die Ehescheidung, die Drohung gegen Jerusalem, in dem die Propheten gesteinigt werden, das Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum, die Geschichte vom großen Gastmahl. Und wo Klagen und Anklagen zu erheben sind, da werden auch die israelitischen Namen genannt: Jerusalem[4], Kapernaum[5], Chorazin[6], Bethsaida[7]. Selbstverständlich wollen auch wir keine von diesen so überaus ernsten Erzählungen missen. Sie sind uns der furchtbarste Spiegel, der uns entgegengehalten werden kann. Wir haben uns ja vor ihnen zu fragen, ob wir nicht selbst in gleiche Schuld zu geraten drohen, ob nicht wir selbst dem Geist der Selbstgerechtigkeit und Unduldsamkeit verfallen, der die Pharisäer an Jesus Christus so entsetzlich schuldig werden ließ. Aber die Herausgeber des Volkstestaments fühlen sich durch die Schuld Israels nicht in ihrem eigenen Gewissen angesprochen. Sie fühlen sich nirgends zu dem Bekenntnis veranlaßt: „Ich, ich und meine Sünden, die sich wie Körnlein finden des Sandes an dem Meer, die haben dir erreget das Elend, das dich schläget und das betrübte Marterheer.“[8] So wie die Erzählungen zusammengestellt sind, schaut uns aus ihnen nicht die eigene, sondern eine fremde Schuld an, an der sich der Leser völlig unbeteiligt fühlen soll und darf.
Dieses Bild muß entstehen, wenn die andere Seite einfach unterschlagen wird, wenn jegliche Anknüpfung an die Welt des Alten Testaments als bloße spätere Deutung durch die Evangelisten
- ↑ „Sein Kampf“, 342 Z.
- ↑ „Sein Aufbruch“, Z. 60f u. 314; „Sein Kampf“, Z. 23, 34, 35, 37, 54, 65, 77, 78 u. 82
- ↑ „Sein Kampf“, Z. 26, 33, 39, 50 u. 73
- ↑ „Sein Kampf“, Z. 220 u. 242
- ↑ „Sein Kampf“, Z. 285
- ↑ „Sein Kampf“, Z. 280
- ↑ „Sein Kampf“, Z. 280f
- ↑ Paul Gerhardt: O Welt, sieh hier dein Leben. 1647, Strophe 3, EG 84.
Karl Fischer: Das Volkstestament der Deutschen Christen. Bekennende Evangelisch-luth. Kirche Sachsens, Dresden 1940, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Volkstestament_der_Deutschen_Christen.pdf/9&oldid=- (Version vom 19.12.2023)