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Walther Kabel: Das Tal der Tränen. In: Neues Deutsches Familienblatt, Jahrgang 1908, Heft 27–34, S. 209–210, 217–218, 225–226, 233–234, 241–242, 257–259, 265–266, 273–275

Wege, der in nordwestlicher Richtung nach dem Fort Mojave führte, ab und ritt dem Monumentgebirge zu, das die Koloradowüste im Norden begrenzt und dessen weitester Ausläufer nach Süden zu das von den deutschen Ansiedlern bewohnte „Tal der Tränen“ war, eine mitten in der sandigen Einöde liegende Felsgruppe, die einen kleinen Kessel von drei Seiten einschloß. Dieser nördliche Teil der Ebene, den Mia jetzt durchritt, war noch wenig bewohnt. Nur in der Ferne, dicht neben dem blinkenden Silberband des Kanals, konnte man einzelne niedrige Baulichkeiten unterscheiden, die zu der Farm jenes Kollins gehörten, den die Pferdediebe kürzlich heimgesucht hatten. Sonst zeigte die Gegend noch das trostlose Bild einer unfruchtbaren Steppe, deren Eintönigkeit nur einzelne halbverdorrte, gelbe Grasflächen und die weißlich schimmernden, bisweilen zu Mannshöhe aufsteigenden, undurchdringlichen Kakteenfelder unterbrachen. Doch die Reiterin störte diese Einsamkeit nicht. Munter ließ sie ihr Pferdchen ausgreifen, vermied vorsichtig die Kaktusstauden, deren scharfe Stacheln schon häufig den Beinen ihrer Alix gefährlich geworden waren, und achtete nach Art jener Naturkinder, die inmitten der Wildnis groß geworden sind, auf jede Kleinigkeit, die sich ihren forschenden Blicken darbot. Je weiter sie sich von dem Kanal entfernte, desto seltener wurden die Spuren in dem sandigen Boden. Nur hin und wieder traf sie noch auf die halbverwehten Tritte von Pferden, sah aber desto häufiger die feinen Eindrücke der Pfoten von Steppenwölfen und wilden Kaninchen, die hier noch ungestört von den Menschen in ewigem Kriege lebten.

Mia mochte ungefähr zwei Stunden geritten sein, und die Felsenmasse des Tales der Tränen hob sich bereits am Horizont wie ein dunkler Fleck von der grauen Ebene ab, als sie plötzlich die Zügel anzog und ihren Pony zum Stehen brachte. Was sie stutzen ließ, war ein kaum bemerkbarer breiter Strich, der sich über ihren Weg hinzog und zwischen zwei weiten Kaktusflächen verschwand. Sie beugte sich tief herab und ließ Alix dann eine Strecke dieser seltsamen Spur folgen, die aussah, als ob hier ein rauher Gegenstand über den Boden hingeschleppt worden war und so den Sand in feinen Rillen aufgewühlt hatte. Schon nach kurzer Zeit teilte sich diese merkwürdige Fährte in drei Äste, die in ganz verschiedenen Richtungen fortliefen. An diesem Kreuzungspunkt stieg das Mädchen nach vorsichtigem Umherspähen ab, ließ sich auf ein Knie nieder und untersuchte die Spur aufs sorgfältigste, indem sie den Sand behutsam von einzelnen Stellen fortwischte und wegblies, so daß einige noch ganz gut erhaltene Eindrücke von Pferdehufen zum Vorschein kamen. Als sie sich wieder aufrichtete, lag ein triumphierendes Lächeln auf ihrem Gesicht. Und dem braunen Pony den glänzenden Hals liebevoll klopfend, sagte sie bestimmt: „Alix, ich denke, das hier ist nichts anderes als die schlecht ausgelöschte Spur jener Buschklepper, die in Kollins Farm drei Stück von deinem Geschlecht weggenommen haben, – meinst’s nicht auch? Der Vater wird wohl recht haben, daß sie in dem großen Busch da nordwärts stecken. Denn durch diesen plumpen Witz mit den drei auseinandergehenden Fährten können sie doch deine Herrin nicht täuschen!“

Alix scharrte wie zur Antwort mit dem rechten Vorderfuß den Sand. „Nehmen wir’s als Zustimmung,“ lachte Mia übermütig, schwang sich wieder in den Sattel und ritt in der alten Richtung auf die grauen Felsmassen weiter, denen der Volksmund den traurigen Namen „Tal der Tränen“ gegeben hatte.

Noch heute leben die Ereignisse, die vor fünfzig Jahren dem kleinen Bergkessel zu dieser Bezeichnung verholfen, in der Erinnerung der Bewohner von Südkalifornien und des benachbarten Arizona weiter fort, und Mia war diese Geschichte oft genug erzählt worden, als sie noch mit Vater und Mutter die kleine Schenke am Canon Pik inmitten des wilden Apachenlandes bewohnte und tagtäglich Fallensteller, Pelzjäger oder die Führer der Maultierkarawanen, die von Mexiko nach San Franzisko wollten, bei Will Picker einkehrten und dann abends in der verräucherten Schenkstube ihre Abenteuer aus jenen Zeiten berichteten, wo hinter jedem Busch eine rachgierige Rothaut oder ein verkommener weißer Wegelagerer lauerte. Zu diesen Stammgästen des einsamen Gasthauses am Canon Pik hatte auch ein alter Trapper namens Jim Weller gehört, der sich der kleinen, kaum zwölfjährigen Maria in liebevollster Weise annahm, ihr Spielsachen aus el Paso mitbrachte und sie auf weiten Ausflügen in die Geheimnisse der Natur einweihte, die verschiedensten Spuren deuten lehrte und ebenso in der Handhabung der Büchse unterwies. Der Alte mit den weißen langen Haaren und dem verschlossenen und doch so gütigen Gesicht war der einzige überlebende Teilnehmer jenes Auswandererzuges, der im Jahre 1854 vor den verfolgenden Apachen in das enge Felsental am Nordrande der Koloradowüste flüchtete und dort von den Rothäuten bis auf den damals kaum achtzehnjährigen Jim Weller niedergemetzelt wurde. Wie oft hatte Mia nicht dieser Erzählung des Waldläufers gelauscht. Und jetzt, wo die dunklen, zackigen Höhen ihr immer näher rückten, mußte sie wieder an jene Kindertage zurückdenken, wo sie mit bang klopfendem Herzen neben dem alten Freunde gesessen und ihm die Worte von den Lippen abgelesen hatte.

(Fortsetzung folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Das Tal der Tränen. In: Neues Deutsches Familienblatt, Jahrgang 1908, Heft 27–34, S. 209–210, 217–218, 225–226, 233–234, 241–242, 257–259, 265–266, 273–275. W. Kohlhammer, Stuttgart 1908, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Tal_der_Tr%C3%A4nen.pdf/6&oldid=- (Version vom 31.7.2018)