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Walther Kabel: Das Tal der Tränen. In: Neues Deutsches Familienblatt, Jahrgang 1908, Heft 27–34, S. 209–210, 217–218, 225–226, 233–234, 241–242, 257–259, 265–266, 273–275

nicht in ihrem Versteck bleiben, sondern vorsichtig die Umgebung absuchen werden, da ihnen die Erklärung für das plötzliche Hundegeheul nicht ganz leicht werden dürfte. Gesehen haben sie uns nicht, und wenn sie auf dem schmalen Wege von ihrem Lagerplatz zu der Lichtung nichts Auffälliges entdecken, werden sie sicher aus dem Kaktusfelde herauskommen und hier weiter Umschau halten. Burns und Wilson sind jedenfalls keine so gewitzten Waldläufer, daß sie sich so ohne nähere Anhaltspunkte das Richtige sofort zusammenreimen können. Möglich also, daß sich uns jetzt eine bessere Gelegenheit bietet, ohne besondere Gefahr und mit einiger Aussicht auf Erfolg, die Diebe zu überraschen. Steigen Sie also nur wieder auf und folgen Sie mir.“

Richter sah ein, daß sein Tadel wohl etwas voreilig gewesen war und reichte ihr nun lächelnd zur Versöhnung die Hand. „Gut also, Fräulein Kommandeuse!“ meinte er scherzend. „Ich gehorche aufs Wort!“ Dann lenkten sie in die Wüste hinaus und hielten sich stets so weit von dem Rande des in dem Sternenlicht grausilbern schimmernden Kaktuswaldes, daß sie die dazwischenliegende Strecke noch gerade übersehen konnten. Als sie nach ihrer ungefähren Schätzung auf der Höhe des Ausgangs angelangt sein mußten, führten sie die Pferde ein Stück zurück; Mia fesselte ihrer Alix wieder die Vorderbeine, und vorsichtig näherten sie sich nun den Büschen, indem sie gespannt in die Nacht hinaushorchten.

„Und wenn der Lagerplatz nun einen zweiten Ausweg nach der andern Seite hin besitzt und die Vier nach dorthin sich in Sicherheit gebracht haben?“ gab Richter den eben in ihm aufgestiegenen Bedenken leisen Ausdruck.

„Das glaube ich nicht,“ flüsterte Mia zurück. „Wenn’s auch einen zweiten Pfad durch das Feld geben sollte, so werden Burns und Wilson niemals ihre Beute so leicht im Stich lassen oder ihren Schlupfwinkel aufgeben. Sie wissen ja ganz genau, daß die Neupariser erst morgen in der Gemeindeversammlung beschließen wollen, was gegen die überhandnehmende Unsicherheit getan werden sollte, und werden an eine ernste Gefahr kaum denken, vielleicht nur annehmen, daß der Hund eines Farmers zufällig in dieser Gegend herumschweift.“

Sie hatten sich inzwischen den Sträuchern immer mehr genähert, und da Mia jetzt an einzelnen Merkmalen erkannte, daß sie sich wirklich dem Pfade gegenüber befanden, streckten sie sich platt auf den Boden nieder und beobachteten das vorliegende Terrain. Mitternacht mußte längst vorüber sein. Es war empfindlich kalt geworden, und ein feiner Tau lag auf den spärlichen Gräsern. Doch die Aufregung ließ die beiden die Kühle vergessen. Ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen spähten unausgesetzt in die Runde, suchten in den grauen Kakteenwald einzudringen, der sich wie eine helle Wand vor ihnen entlangzog. Mia berührte plötzlich leise den Arm des Detektivs, wies geradeaus, wo sich aus dem Gesträuch jetzt langsam die Schatten mehrerer Reiter loslösten, die einer hinter dem anderen im Schritt in die Ebene herauskamen, nun Halt machten und zu beraten schienen. Die beiden duckten sich noch tiefer in den kalten Sand, und Richter umklammerte fester den Lauf seines Karabiners, fühlte auch sein Herz schneller schlagen. Blitzschnell zog eine bunte Reihe von Jugenderinnerungen an seinem geistigen Auge vorüber. Das abenteuerliche dieser Situation regte seine Phantasie an. Er sah sich als Knabe über eine jener berüchtigten Indianergeschichten gebeugt, in denen er ähnliche Vorfälle oft genug gefunden hatte, erinnerte sich an die wilden Spiele in den Wäldern seiner Heimat, wo er mit Altersgenossen nach dem Vorbilde jener blutdürstigen Rothäute harmlose Kriegszüge unternommen und einen ungefährlichen, hölzernen Tomahawk geschwungen hatte. Und jetzt erst sollten sich diese Jugendträume in bittersten Ernst verwandeln! Denn trotz seines mehrjährigen Aufenthalts in Amerika und mancher seltsamen Erlebnisse, war ihm bisher eine ähnlich aufregende Nacht nicht vorgekommen. Dazu hörte er neben sich noch die leisen Atemzüge dieses tapferen Kindes, das mit so überlegener Ruhe die Vorgänge dort drüben verfolgte und dessen Herzschlag sicher nicht im geringsten beschleunigt war. Ein Geräusch ließ den Detektiv aus seinen Gedanken auffahren. Die Reiter hatten sich jetzt getrennt und ritten zu zweien nach entgegengesetzter Richtung am Rande des Kaktuswaldes entlang, anscheinend mit größter Vorsicht, da sie öfters hielten und sich argwöhnisch umschauten. Als ihre Gestalten verschwunden waren, flüsterte Richter seiner Begleiterin enttäuscht zu: „Jetzt haben wir das Nachsehen! Oder wir müßten uns gerade trennen, um ihnen einzeln zu folgen und zusehen, wo sie bleiben. Eine fatale Geschichte! Daß die Schurken sich auch teilen mußten!“

Mia war aufgestanden, und während sie den Sand von ihren Beinkleidern abstäubte, meinte sie ganz ruhig: „Burns und Wilson reiten da nach Süden zu. Ich habe sie deutlich an ihren großen Schlapphüten erkannt, und auf diese haben Sie’s doch nur abgesehen, Master Richter! Also können wir zusammenbleiben und werden sie auch, wenn wir die Sache nicht allzu ungeschickt anfangen, bald in unserer Gewalt haben. Ich schlage vor, daß ich in großem Bogen um die beiden herumreite und ihnen einen Vorsprung abzugewinnen suche, was nicht schwer sein dürfte, da sie ja in einem recht behaglichen Schritt dahinschlendern. Dann komme ich ihnen als arme Verirrte harmlos entgegen, verwickle sie in ein Gespräch, und inzwischen nähern Sie sich vorsichtig von rückwärts, lassen ihnen die freundliche Mahnung „Hände hoch!“ möglichst energisch zukommen, und unter dem besänftigenden Anblick zweier Büchsen werden sie dann wohl möglichst prompt ihr Kommando befolgen. Wenn nicht, ich schieße selbst bei dem schlechtesten Licht auf kurze Entfernung so sicher, daß ich dann für ihr Leben keinen Penny mehr gebe!“

(Schluß folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Das Tal der Tränen. In: Neues Deutsches Familienblatt, Jahrgang 1908, Heft 27–34, S. 209–210, 217–218, 225–226, 233–234, 241–242, 257–259, 265–266, 273–275. W. Kohlhammer, Stuttgart 1908, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Tal_der_Tr%C3%A4nen.pdf/15&oldid=- (Version vom 31.7.2018)