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nichts, aber manches von seiner Struktur begriffen hat, verzeichnet diesen Umstand mit der Notiz: »Ich kann schon nicht mehr denken, was ich denken will. Die beweglichen Bilder haben sich an den Platz meiner Gedanken gesetzt.«[1] In der Tat wird der Assoziationsablauf dessen, der diese Bilder betrachtet, sofort durch ihre Veränderung unterbrochen. Darauf beruht die Chockwirkung des Films, die wie jede Chockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will.[2] Kraft seiner technischen Struktur hat der Film die physische Chockwirkung, welche der Dadaismus gleichsam in der moralischen noch verpackt hielt, aus dieser Emballage befreit.[3]


XV


Die Masse ist eine matrix, aus der gegenwärtig alles gewohnte Verhalten Kunstwerken gegenüber neugeboren hervorgeht. Die Quantität ist in Qualität umgeschlagen: Die sehr viel größeren Massen der Anteilnehmenden haben eine veränderte Art des Anteils hervorgebracht. Es darf den Betrachter nicht irre machen, daß dieser Anteil zunächst in verrufener Gestalt in Erscheinung tritt. Doch hat es nicht an solchen gefehlt, die sich mit Leidenschaft gerade an diese oberflächliche Seite der Sache gehalten haben. Unter diesen hat Duhamel sich am radikalsten

  1. Georges Duhamel: Scènes de la vie future. 2e éd., Paris 1930, p. 52.
  2. Der Film ist die der gesteigerten Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen haben, entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren. Der Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt.
  3. Wie für den Dadaismus sind dem Film auch für den Kubismus und Futurismus wichtige Aufschlüsse abzugewinnen. Beide erscheinen als mangelhafte Versuche der Kunst, ihrerseits der Durchdringung der Wirklichkeit mit der Apparatur Rechnung zu tragen. Diese Schulen unternahmen ihren Versuch, zum Unterschied vom Film, nicht durch Verwertung der Apparatur für die künstlerische Darstellung der Realität, sondern durch eine Art von Legierung von dargestellter Wirklichkeit und dargestellter Apparatur. Dabei spielt die vorwiegende Rolle im Kubismus die Vorahnung von der Konstruktion dieser Apparatur, die auf der Optik beruht; im Futurismus die Vorahnung der Effekte dieser Apparatur, die im rapiden Ablauf des Filmbands zur Geltung kommen.