Da sah ich draußen Hilde Winter den Markt überqueren …
Ich zahlte hastig, eilte ihr nach und sprach sie an …
„Fräulein Winter …“
Sie fuhr zusammen, als ob sie tödlich erschrocken sei …
„Ah – – Herr Hubert …“ Sie konnte nur stammeln …
„Mein Gott, habe ich Sie denn so sehr erschreckt, Fräulein Hilde …!“ Ganz unbewußt kam mir ihr Vorname über die Lippen …
„Ich war so in Gedanken …“
Und sie schaute mich an, und in den lieben Augen war ein so bekümmerter Ausdruck, daß ich leise bat:
„Was quält Sie? Vertrauen Sie sich doch mir an … betrachten Sie mich als Ihren guten Freund … Ich bin’s, Fräulein Hilde … Ich kann schweigen …“
Wir bogen in die enge Gasse ein, die hier nach dem Brauberg emporläuft …
Gesenkten Kopfes ging sie neben mir her …
Schwieg …
Aber ich sah die Tränen, die sie verstohlen wegtupfte …
Um uns her war der Frühlingsduft der Gärten und der lachende Sonnenschein …
Und wieder bat ich:
„Sie müssen sich doch einmal das Herz erleichtern, Fräulein Hilde … Sie müssen sich sagen, daß Sie jetzt nicht mehr so allein dastehen wie bisher. Sie erklärten mir ja, daß Sie keinerlei Verkehr hätten, keine Freundin, niemanden …“
„Oh – da habe ich doch so etwas übertrieben, Herr Hubert,“ unterbrach sie mich. „Eine Freundin habe ich doch … Unten im Erdgeschoß wohnt bei uns die pensionierte Lehrerin Fräulein Wendig, Charlotte Wendig … Bei der bin ich sehr häufig … Sie ist ein herzensgutes Geschöpf, Herr Hubert …“
Max Schraut: Das Kreuz auf der Stirn. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1925, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Kreuz_auf_der_Stirn.pdf/24&oldid=- (Version vom 31.7.2018)