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Gott selbst giebt. Darum bedeutete ihm diese ganze Sakramentslehre ein Attentat an der Majestät Gottes und eine Knechtschaft der Seelen zugleich.

Fünftens, sie protestierte gegen die doppelte Sittlichkeit und damit gegen die „höhere“, gegen die Behauptung, daß es Gott besonders wohlgefällig sei, die in der Schöpfung gesetzten Kräfte und Gaben nicht zu gebrauchen. Die Reformatoren hatten ein starkes Gefühl dafür, daß die Welt mit ihrer Lust vergeht; man darf sich Luther wahrlich nicht als den modernen Menschen vorstellen, der mit freudigem Gefühl und sicher auf der Erde stand; er hatte vielmehr, wie die mittelalterlichen Menschen, eine lebhafte Sehnsucht darnach, diese Welt los zu werden und aus dem „Jammerthal“[WS 1] abzuscheiden. Aber weil er davon überzeugt war, daß man Gott nichts bieten könne und dürfe als Vertrauen, so kam er in Bezug auf die Weltstellung des Christen zu ganz anderen Thesen als die ernsten Mönche der vergangenen Jahrhunderte. Da Fasten und Askese Gott gegenüber ohne Wert sind, da sie auch den Mitmenschen nichts nützen, und da Gott der Schöpfer aller Dinge ist, so ist es am geratensten, an der Stelle zu bleiben, da Gott einen hingestellt hat. Von hier aus hat Luther doch eine Freudigkeit und Zuversicht zu den irdischen Ordnungen gewonnen, die im Kontrast steht zu seiner weltflüchtigen Stimmung und sie wirklich überwunden hat. Er stellte den entscheidenden Satz auf, daß alle Stände – Obrigkeit, Ehestand usw. bis herab zu den Knechten und Mägden – gottgewollte und deshalb wahrhaft geistliche Stände seien, in denen man Gott dienen solle: eine treue Magd steht höher als ein kontemplierender Mönch. Nicht mit vielen Künsten sollen die Christen eigene Wege suchen, sondern Geduld und Nächstenliebe beweisen innerhalb des gegebenen Berufs. Von hier aus erwuchs ihm die Vorstellung von dem selbständigen Recht aller weltlichen Ordnungen und Gebiete: sie sind nicht blos zu dulden und empfangen erst von der Kirche eine Art von Recht der Existenz – nein, sie haben ihr eigenes Recht und sind das große Gebiet, auf denen der Christ seinen Glauben und seine Liebe zu bewähren hat; ja sie sind selbst dort zu respektieren, wo Gottes Offenbarung im Evangelium noch ganz unbekannt geblieben ist.

So hat derselbe Mann, der seinem persönlichen Empfinden nach nichts von der Welt verlangte und in dessen Seele nur die Sorge um das Ewige lebte, die Menschheit von dem Banne der

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vgl. Phil 1,23f.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/179&oldid=- (Version vom 30.6.2018)