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bezw. schon von Augustin. Die, welche die wahre Kirche als „die Zahl der Prädestinierten“ definierten, mußten ihre vollkommene Unsichtbarkeit behaupten. Aber die deutschen Reformatoren haben sie nicht so bestimmt. Wenn sie erklärten, die Kirche sei eine Gemeinschaft des Glaubens, in der das Wort Gottes recht verkündigt wird, so haben sie damit alle grobsinnlichen Merkmale abgelehnt und so die sinnenfällige Sichtbarkeit allerdings ausgeschlossen; aber – um einen Vergleich zu brauchen – wer wird eine geistige Gemeinschaft z. B. von gleich strebenden Jüngern der Wissenschaft oder von Patrioten deshalb für „unsichtbar“ erklären, weil sie keine äußeren Merkmale besitzt und nicht mit den Fingern abgezählt werden kann? Ebensowenig ist die evangelische Kirche eine „unsichtbare“ Gemeinschaft. Sie ist eine Gemeinschaft des Geistes, und daher stellt sich ihre „Sichtbarkeit“ auf verschiedenen Stufen und mit verschiedener Stärke dar. Es kann Momente geben, in denen sie völlig unerkennbar ist, und wiederum solche, in denen sie so kräftig in die Erscheinung tritt wie eine sinnenfällige Größe. Allerdings, so scharf umrissen kann sie niemals auftreten wie der Staat von Venedig oder das Königreich Frankreich – ein großer katholischer Dogmatiker[AU 1] hat diese Vergleichung in Bezug auf seine Kirche für zutreffend erklärt –; aber als Protestant soll man wissen, daß man nicht einer „unsichtbaren“ Kirche angehört, sondern einer geistigen Gemeinschaft, die über die Kräfte verfügt, welche geistigen Gemeinschaften zustehen, einer geistigen Gemeinschaft auf Erden, die in die Ewigkeit reicht.

Und nun das andere: der Protestantismus behauptet, die christliche Gemeinschaft ruhe objektiv allein auf dem Evangelium, das Evangelium aber sei in der heiligen Schrift enthalten. Von Anfang an ist ihm entgegnet worden, wenn dem so sei und dabei keine Autorität anerkannt werde, die über den Inhalt des Evangeliums und seine Ermittelung aus der h. Schrift zu entscheiden habe, so sei eine allgemeine Verwirrung die Folge, von der denn auch die Geschichte des Protestantismus ein reichliches Zeugnis ablege; habe jeder die Befugnis zu entscheiden, was „der rechte Verstand“[WS 1] des Evangeliums sei, und sei er in dieser Hinsicht an keine Tradition, kein Konzil und keinen Papst gebunden, sondern übe das Recht der freien Forschung, so könne eine Einheit, eine Gemeinschaft, kurz eine Kirche überhaupt nicht zustande kommen; der Staat müsse daher eingreifen, oder es müsse irgend eine will-

Anmerkung des Autors (1908)

  1. Der große Dogmatiker war Bellarmin.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Martin Luther, z. B. in „Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ (1523).
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/175&oldid=- (Version vom 30.6.2018)