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Wer die politische Lage ins Auge faßt, wie sie eben jetzt besteht, hat gewiß keinen Grund, die abnehmende Macht der römischen Kirche zu konstatieren. Welchen Zuwachs hat sie im 19. Jahrhundert erlebt! Und doch – ein scharfes Auge gewahrt, daß sie längst nicht mehr über solch eine Fülle von Kräften gebietet, wie im 12. und 13. Jahrhundert. Damals standen alle materiellen und geistigen Kräfte zu ihrer Verfügung. Intensiv hat seitdem, aufgehalten durch einige kurze Epochen des Aufschwungs wie zwischen 1540 und 1620 und im 19. Jahrhundert, ein ungeheurer Rückgang stattgefunden. Besorgte und ernste Katholiken verhehlen sich das nicht; sie wissen und erklären, daß ein wichtiger Teil des geistigen Besitzes, der zur Herrschaft der Kirche notwendig ist, ihr abhanden gekommen sei. Und weiter – wie steht es mit den romanischen Nationen, die doch das eigentliche Gebiet der Herrschaft dieser römischen Kirche bilden? Eine wirkliche Großmacht ist nur noch eine einzige von ihnen zu nennen, und wie wird es nach einem Menschenalter aussehen? Diese Kirche lebt als Staat heute zu einem nicht geringen Teil von ihrer Geschichte, ihrer altrömischen und ihrer mittelalterlichen, und sie lebt als das römische Reich der Romanen; Reiche aber leben nicht ewig. Wird die Kirche fähig sein, sich in dem zukünftigen Umschwung der Dinge zu behaupten, wird sie die fortschreitende Spannung mit dem geistigen Leben der Völker ertragen, wird sie den Rückgang der romanischen Staaten überdauern?

Doch lassen wir diese Fragen auf sich beruhen. Erinnern wir uns vielmehr, daß diese Kirche in ihrem Mönchtum und ihren religiösen Vereinen, vor allem aber Dank dem Augustinismus ein tiefes und lebendiges Element in ihrer Mitte hat. Zu allen Zeiten hat sie Heilige erzeugt, soweit Menschen so genannt werden können, und ruft sie noch jetzt hervor. Gottvertrauen, ungefärbte Demut, Gewißheit der Erlösung, Hingabe des Lebens im Dienste der Brüder ist in ihr zu finden; das Kreuz Christi nehmen zahlreiche Brüder auf sich und üben zugleich jene Selbstbeurteilung und jene Freude in Gott, wie sie Paulus und Augustin gewonnen haben. Selbständiges religiöses Leben entzündet sich in der Imitatio Christi und ein Feuer, das mit eigener Flamme brennt. Das Kirchentum hat die Kraft des Evangeliums nicht zu unterdrücken vermocht; trotz den furchtbarsten Lasten, die auf dasselbe geworfen sind, dringt es immer wieder durch. Noch immer wirkt es wie ein Sauerteig.

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/170&oldid=- (Version vom 30.6.2018)