Der römische Katholizismus als äußere Kirche, als ein Staat des Rechts und der Gewalt, hat mit dem Evangelium nichts zu thun, ja widerspricht ihm grundsätzlich: darauf haben wir am Schluß der letzten Vorlesung hingewiesen. Daß dieser Staat sich vom Evangelium her einen göttlichen Schimmer borgt, und daß dieser Schimmer ihm außerordentlich nützlich ist, kann das Urteil
nicht umstoßen. Die Vermischung des Göttlichen mit dem Weltlichen, des Innerlichsten mit dem Politischen ist der tiefste Schade, weil die Gewissen geknechtet werden und die Religion um ihren Ernst gebracht wird – muß sie ihn nicht verlieren, wenn alle möglichen Maßregeln, die dazu dienen, das irdische Reich der Kirche zu erhalten, als der göttliche Wille proklamiert werden, z. B. die Souveränetät des Papstes? Aber man weist darauf hin, daß eben durch die selbständige Haltung dieser Kirche die Religion im Abendlande davor geschützt worden sei, ganz dem Volkstum oder dem Staate und der Polizei zu verfallen. Diese Kirche hat, so sagt man, den hohen Gedanken der vollen Selbständigkeit der Religion und ihrer Unabhängigkeit vom Staat aufrecht erhalten. Man kann das zugeben; aber der Preis, den das Abendland für diesen Dienst hat zahlen müssen und noch immer zahlt, ist viel zu hoch: den Völkern droht der innerliche Bankerott, so groß ist der Tribut, und der Kirche – für sie ist das Kapital, das sie gewonnen hat, in Wahrheit ein fressendes Kapital. Langsam vollzieht sich ein Prozeß der Verarmung der Kirche bei allem scheinbaren Zuwachs an Macht, langsam aber sicher. Gestatten Sie mir hier einen kurzen Exkurs.
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/169&oldid=- (Version vom 30.6.2018)