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theoretischen Sätzen zum Ausdruck gebracht sind. Daß die Wirkungen dieser Substitution nicht so schlimme und grundstürzende sind, ist wesentlich die Folge davon, daß die Kirche die Evangelien doch nicht unterdrückt hat, und diese sich mit eingeborener Kraft geltend machen. Man mag auch zugestehen, daß die Vorstellung von dem menschgewordenen Gott nicht überall nur wie ein berauschendes Mysterium wirkt, sondern zu der bestimmten und reinen Überzeugung: Gott war in Christus, überleiten kann. Man mag endlich einräumen, daß der egoistische Wunsch nach unsterblicher Dauer innerhalb der christlichen Sphäre eine sittliche Reinigung erfahren wird durch die Sehnsucht, mit und in Gott zu leben und untrennbar mit seiner Liebe verbunden zu bleiben. Aber alle diese Zugeständnisse können die Einsicht nicht wegschaffen, daß in der griechischen Dogmatik die verhängnisvollste Verbindung geschlossen ist zwischen dem antiken Wunsche nach unsterblichem Leben und der christlichen Verkündigung. Auch kann niemand leugnen, daß diese Verbindung, eingestellt in die griechische Religionsphilosophie und ihren Intellektualismus, zu Formeln geführt hat, die unrichtig sind, einen erdachten Christus an Stelle des wirklichen setzen und außerdem der Selbsttäuschung Raum geben, daß man die Sache habe, wenn man nur die richtige Formel besitze. Selbst wenn die christologische Formel die theologisch zutreffende wäre – wie weit hat sich die Kirche vom Evangelium entfernt, die da behauptet, man könne zu Jesus Christus kein Verhältnis gewinnen, ja man versündige sich an ihm und werde hinausgestoßen, wenn man nicht allem zuvor anerkenne, daß er eine Person mit zwei Naturen und zwei Willensenergieen, je einer göttlichen und einer menschlichen, gewesen sei? Bis zu solcher Forderung hat sich der Intellektualismus ausgebildet! Darf da noch das Evangelium vom kananäischen Weibe oder vom Hauptmann zu Kapernaum gelesen werden?


Mit dem Traditionalismus und Intellektualismus ist aber noch ein weiteres Element verbunden; das ist der Ritualismus. Stellt sich die Religion als eine überlieferte, weitschichtige Lehre dar, die nur wenigen wirklich zugänglich ist, so vermag sie nur als Weihe bei der Mehrzahl der Gläubigen praktisch zu werden. Die Lehre wird appliziert in stereotypen Formeln, die von symbolischen Handlungen begleitet sind. So läßt sie sich zwar nicht innerlich verstehen, aber es läßt sich etwas Geheimnisvolles dabei empfinden.

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/151&oldid=- (Version vom 30.6.2018)