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Aber innerhalb dieser großen Gott-Welt-Philosophie, die als „Inhalt der Offenbarung“ und als „orthodoxe Lehre“ einen absoluten Wert besitzt, sind es zwei Elemente, die sie von der sonst so verwandten griechischen Religionsphilosophie durchgreifend unterscheiden und ihr einen ganz eigentümlichen Charakter verleihen. Ich meine nicht die Berufung auf Offenbarung – denn auf Offenbarung beriefen sich auch die Neuplatoniker –, sondern den Schöpfungsgedanken und die Lehre von der Gottmenschheit des Erlösers. Sie durchbrechen das Schema der griechischen Religionsphilosophie an zwei entscheidenden Punkten und sind daher auch stets von den echten Vertretern derselben als fremd und unerträglich empfunden worden.

Über den Schöpfungsgedanken können wir uns kurz fassen. Er ist unzweifelhaft ein ebenso wichtiges wie dem Evangelium entsprechendes Element. Durch ihn ist die Verflechtung von Gott und Welt aufgehoben und die Wirklichkeit und Kraft des lebendigen Gottes zum Ausdruck gebracht. Zwar haben auch bei christlichen Denkern auf griechischem Boden – eben weil sie Griechen waren – die Versuche nicht gefehlt, die Gottheit lediglich als die einheitliche Kraft des Weltgefüges, als die Einheit in der Vielheit und als das Ziel der Vielheit zu fassen. Sogar die Kirchenlehre trägt heute noch einige Spuren dieser Spekulation; aber der Schöpfungsgedanke hat doch triumphiert, und damit hat die Christlichkeit einen wirklichen Sieg erfochten.

Viel schwieriger ist es, über die Lehre von der Gottmenschheit des Erlösers ein richtiges Urteil zu gewinnen. Sie ist unzweifelhaft das Herzstück der ganzen griechischen Dogmatik. Von ihr aus ist die Trinitätslehre gewonnen, und beide zusammen bilden nach griechischer Auffassung die christliche Lehre in nuce. Wenn ein griechischer Kirchenvater einmal gesagt hat: „Die Gottmenschheit (die Menschwerdung) ist das Neue unter dem Neuen, ja das einzig Neue unter der Sonne“[WS 1] so hat er damit nicht nur das Urteil aller seiner Konfessionsgenossen richtig wiedergegeben, sondern zugleich in treffender Weise ihre Meinung ausgedrückt, daß alle übrigen Stücke der Lehre sich bei gesunden Sinnen und ernstem Nachdenken von selbst ergeben, dieses aber darüber hinaus liegt. Die Theologen der griechischen Kirche sind davon überzeugt, daß christliche Glaubenslehre und natürliche Philosophie sich eigentlich nur dadurch unterscheiden, daß jene die Lehre von

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Johannes von Damaskus, Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens (Expositio fidei), Buch III, Kap. 1: „Und obwohl er vollkommener Gott ist, wird er vollkommener Mensch und vollbringt das Neueste von allem Neuen, das allein Neue unter der Sonne, wodurch sich die unendliche Macht Gottes offenbart.“ (nach BKV 44).
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/147&oldid=- (Version vom 30.6.2018)