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Die Intoleranz ist etwas Neues auf dem Boden der Griechen[AU 1] und kann ihnen nicht einfach zur Last gelegt werden; aber wie die Lehre ausgebildet wurde, nämlich als große Gott-Welt-Philosophie, das ist unter ihrem Einfluß geschehen, und daß die Religion überhaupt mit der Lehre geradezu identifiziert worden ist, ist ebenfalls ein Werk ihres Geistes. Alle Hinweise auf die Bedeutung, welche die Lehre schon im apostolischen Zeitalter besessen hat, und auf die Ansätze, sie in spekulative Form zu bringen, genügen hier nicht. Sie sind vielmehr, wie ich in den früheren Vorlesungen gezeigt zu haben hoffe, anders zu verstehen. Der Intellektualismus hebt erst im 2. Jahrhundert bei den Apologeten an und, unterstützt durch den Kampf gegen die Gnostiker und durch die alexandrinischen Religionsphilosophen der Kirche, setzt er sich durch.

Es genügt aber nicht, die Lehre der griechischen Kirche nur nach ihrer formalen Seite zu würdigen und zu konstatieren, in welcher Art und in welchem Umfang sie sich darstellt und wie hoch sie gewertet wird. Wir müssen auch sachlich auf sie eingehen; denn sie besitzt zwei Elemente, die ihr ganz eigentümlich sind und sie von der griechischen Religionsphilosophie unterscheiden – den Schöpfungsgedanken und die Lehre von der Gottmenschheit des Erlösers. Von ihnen werden wir in der nächsten Vorlesung handeln, ferner von den beiden anderen Elementen, welche die griechische Kirche neben der Tradition und der Lehre charakterisieren, nämlich dem Kultus- und dem Mönchtum.




Anmerkung des Autors (1908)

  1. „Die Intoleranz ist etwas Neues auf dem Boden der Griechen“ – doch s. die Einschränkung auf S. 140, Z. 17f., die noch kräftiger auszudrücken ist.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/145&oldid=- (Version vom 30.6.2018)