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Empfindung ganz anderer Art haben sie einen religiösen Wert, und dabei ist noch vorausgesetzt, daß das Objekt ein würdiges ist. Der Traditionalismus und der mit ihr eng verbundene Ritualismus charakterisieren die griechische Kirche in hervorragendem Maße, aber eben daraus geht hervor, wie sehr sie sich von dem Evangelium entfernt hat.

Das zweite Stück, welches die Eigenart dieser Kirche bestimmt, ist der Wert, den sie auf die Orthodoxie legt, auf die richtige Lehre. Sie hat diese Lehre aufs genaueste ausgebildet und umschrieben, und sie hat sie oft genug zum Schrecken andersgläubiger Menschen gemacht. Nur wer die richtige Lehre hat, kann selig werden, wer sie nicht hat, ist auszustoßen und soll aller Rechte verlustig gehen; ist er ein Volksgenosse, so soll er wie ein Aussätziger behandelt werden und jeden Zusammenhang mit seiner Nation verlieren. Dieser Fanatismus, der auch heute noch hier und dort in der griechischen Kirche emporlodert und prinzipiell nicht aufgegeben ist, ist nicht griechisch – obgleich eine gewisse Neigung nach dieser Seite den alten Griechen nicht gefehlt hat –, er ist noch weniger römisch-rechtlichen Ursprungs; er ist vielmehr das Produkt mehrerer Faktoren, die in unglücklicher Vereinigung auftraten. Als das römische Reich christlich wurde, war der schwere Existenzkampf der Kirche mit den Gnostikern noch nicht vergessen; noch weniger waren die letzten blutigen Verfolgungen der Kirche vergessen, die der Staat in einer Art von Verzweiflung verhängt hatte. Bereits diese beiden Momente erklären es, wie die Stimmung, ein Recht auf Repressalien zu haben und zugleich die Häretiker unterdrücken zu müssen, in der Kirche aufkam. Nun aber trat noch an höchster Stelle die orientalische absolutistische Auffassung von dem unbeschränkten Recht und der unbeschränkten Pflicht des Herrschers seinen „Unterthanen“ gegenüber seit Diokletian und Konstantin hinzu. Das war ja das Verhängnisvolle bei dem großen Umschwung der Dinge, daß der römische Kaiser damals gleichzeitig und fast in einem Moment christlicher Kaiser und orientalischer Despot geworden ist. Je gewissenhafter er nun war, desto intoleranter mußte er sein; denn ihm hat die Gottheit nicht nur die Leiber, sondern auch die Seelen übergeben. So entstand die aggressive und absorptive Orthodoxie des Staats und der Kirche oder vielmehr der Staatskirche; alttestamentliche Beispiele, die immer zur Hand sind, vollendeten den Prozeß und gaben ihm die Weihe.

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/144&oldid=- (Version vom 30.6.2018)