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Augenscheinlich haben die Völker, welche dieser Kirche angehören, seitdem nichts erlebt, was sie ihnen unerträglich und reformbedürftig erscheinen ließe. Sie verharren daher noch immer bei dieser „natürlichen“ Religion des 6. Jahrhunderts.

Aber mit Bedacht habe ich von der Kirche in ihrer äußeren Erscheinung gesprochen. Es gehört mit zu ihrem komplizierten Charakter, daß man aus dem Äußeren nicht einfach auf das Innere schließen kann. Es genügt daher nicht, die richtige Beobachtung auszusprechen, diese Kirche gehöre in die griechische Religionsgeschichte. Sie übt doch Wirkungen aus, die nicht leicht von hier aus verstanden werden können. Wir müssen, um sie richtig zu würdigen, näher auf die Elemente eingehen, die sie charakterisieren.

Zuerst begegnen uns hier die Tradition und der Gehorsam gegen sie. Das Heilige, das Göttliche ist nicht in freien Wirkungen vorhanden – welche Einschränkungen dieser Satz erleidet, werden wir später sehen –, sondern es ist aufgespeichert in Form eines ungeheuren Kapitals. Aus diesem Kapital ist alles zu entnehmen, und es will genau so ausgemünzt sein, wie die Väter es ausgemünzt haben. Einen gewissen Ansatzpunkt für diesen Gedanken bietet allerdings schon die älteste Zeit. Wir lesen in der Apostelgeschichte: „Sie blieben in der Apostel Lehre.“[WS 1] Was aber ist aus dieser Übung und Verpflichtung geworden? Erstlich, es ist alles als „apostolisch“ bezeichnet worden, was sich im Laufe der nächsten Jahrhunderte hier angesetzt hat; oder vielmehr: was die Kirche nötig zu haben glaubte, um sich der geschichtlichen Lage anzupassen, das nannte sie apostolisch, weil sie ohne dasselbe nicht existieren zu können meinte, und – was für die Existenz der Kirche notwendig ist, muß eben apostolisch sein. Zweitens, es ist als unverbrüchliche Erkenntnis festgestellt worden, daß das „Bleiben“ im Apostolischen sich in erster Linie auf die pünktliche Befolgung aller rituellen Anweisungen bezieht; das Heilige haftet an dem Wortlaut und der Form. Beides ist nun durchaus antik gedacht. Daß das Göttliche sozusagen dinglich aufgespeichert ist, und daß die Gottheit vor allem die pünktliche Einhaltung eines Rituals verlangt, war in der Antike der geläufigste und sicherste Gedanke. Die Tradition und die Zeremonie sind die Bedingungen, unter denen das Heilige allein existierte und zugänglich war. Gehorsam, Respekt, Pietät waren die wichtigsten Religionsempfindungen; gewiß sind sie der Religion unveräußerlich, aber nur als Begleiterscheinungen einer lebendigen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Apg 2,42.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/143&oldid=- (Version vom 30.6.2018)