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den Kultus der Magna Mater und des Zeus Soter bekämpften. Für unzählige Elemente in dieser Kirche, die ebenso heilig erachtet werden wie das Evangelium, giebt es in dem ältesten Christentum nicht einmal einen Ansatzpunkt. Mit dem ganzen Vollzug des Hauptgottesdienstes, ja selbst mit vielen dogmatischen Lehren steht es schließlich nicht anders: man streiche einige Worte, wie „Christus“ etc. heraus, und nichts erinnert mehr an das Ursprüngliche. Diese Kirche ist als Gesamterscheinung nach außen lediglich eine Fortsetzung der griechischen Religionsgeschichte unter dem fremden Einfluß des Christentums, wie ja so viel Fremdes auf sie eingewirkt hat. Man könnte auch sagen: diese Kirche ist als äußere Kirche das Naturprodukt der Verbindung des selbst schon orientalisch zersetzten Griechentums mit der christlichen Predigt; sie ist das, was die Geschichte auf „natürlichem“ Wege aus einer Religion macht, bezw. was sie zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert aus ihr machen mußte – in diesem Sinne ist sie natürliche Religion. Unter diesem Begriff kann ein Doppeltes verstanden werden: gewöhnlich versteht man unter ihm etwas Abstraktes, nämlich die Summe der elementaren Empfindungen und Vorgänge, welche in allen Religionen nachweisbar sind. Es ist indes fraglich, ob es solche giebt, bezw. ob sie so deutlich und fest sind, daß sie zusammengefaßt werden können. Besser gebraucht man den Begriff „natürliche Religion“ für das Endprodukt einer Religion, welches entstanden ist, nachdem die „natürlichen“ Kräfte der Geschichte ihr Ziel an ihr beendigt haben. Diese sind überall im letzten Grunde dieselben, wenn auch in den Aufzügen verschieden, und sie bilden sich die Religion, bis sie ihnen bequem liegt: Heiliges, Ehrfurchtgebietendes und dergleichen stoßen sie nicht aus, aber sie weisen ihnen den Platz und den Spielraum an, den sie für den richtigen halten, und sie tauchen alles in ein einheitliches Medium, jenes Medium, welches wie die Luft die erste Bedingung ihrer „natürlichen“ Existenz ist. In diesem Sinne nun ist die griechische Kirche natürliche Religion: kein Prophet, kein Reformator, kein Genius hat in ihrer Geschichte seit dem 3. Jahrhundert den natürlichen Ablauf der Einbürgerung der Religion in die gemeine Geschichte gestört. Dieser Ablauf war im 6. Jahrhundert beendigt und behauptete sich im 8. und 9. Jahrhundert gegen starke Angriffe siegreich. Seitdem ist Ruhe eingetreten, und der damals erreichte Zustand ist nicht wesentlich, ja nicht einmal unwesentlich mehr geändert worden.

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/142&oldid=- (Version vom 30.6.2018)