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sie heute ist und wie sie sich schon seit mehr als einem Jahrtausend wesentlich unverändert behauptet. Wir sehen zwischen dem dritten und dem neunzehnten Jahrhundert in der Kirchengeschichte des Orients nirgendwo einen tiefen Einschnitt. Eben deshalb dürfen wir unsern Standort in der Gegenwart nehmen. Wir stellen aber wiederum folgende drei Fragen:

Was hat dieser griechische Katholizismus geleistet?

Wodurch ist er charakterisiert?

Wie ist das Evangelium in ihm modifiziert worden, und wie hat es sich behauptet?

1. Was hat dieser griechische Katholizismus geleistet? Man darf hier auf ein Doppeltes verweisen: Erstlich, er hat in dem großen Gebiete, welches er einnimmt, in den Ländern des östlichen Mittelmeers und hinauf bis ans Eismeer, dem Heidentum und dem Polytheismus überhaupt ein Ende gemacht. Der entscheidende Sieg hat sich vom 3. bis zum 6. Jahrhundert vollzogen und so vollzogen, daß die Götter Griechenlands wirklich untergegangen sind, sang- und klanglos untergegangen. Nicht in einer großen Katastrophe, sondern ohne einen erheblichen Widerstand zu leisten, sind sie an Entkräftung gestorben. Daß sie einen beträchtlichen Teil ihrer Kraft vorher den kirchlichen Heiligen abgegeben haben, mag hier nur angedeutet sein. Mit den Göttern, und das will mehr sagen, ist aber auch der Neuplatonismus, die letzte große Hervorbringung des griechischen philosophischen Geistes, überwunden worden. Die kirchliche Religionsphilosophie erwies sich stärker als diese. Der Sieg über den Hellenismus ist eine Großthat der östlichen Kirche, von der sie noch immer zehrt. Zweitens, diese Kirche hat es verstanden, sich mit den einzelnen Völkern, die sie in sich hineingezogen hat, so zu verschmelzen, daß ihnen Religion und Kirche zu nationalen Palladien geworden sind, ja zu den Palladien. Gehen Sie zu den Griechen, zu den Russen, zu den Armeniern etc. – überall werden Sie finden, daß Kirche und Volkstum nicht zu trennen sind, und daß das eine Element nur in und mit dem anderen existiert. Für ihre Kirche lassen sich die Angehörigen dieser Nationen, wenn es sein muß, in Stücke hauen. Das ist nicht nur die Folge des Druckes der feindlichen Macht des Islam; auch bei den Russen, die doch nicht unter diesem Drucke stehen, ist es nicht anders. Wie innig und fest das Verhältnis zwischen Kirche und Volk bei ihnen ist, trotz der „Sekten“, welche auch hier nicht fehlen, lehrt nicht etwa nur die moskowitische

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 136. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/140&oldid=- (Version vom 30.6.2018)